Leben und arbeiten ohne Grenzen

Wenn am 26. Mai in Österreich die parlamentarischen VertreterInnen im EU-Parlament gewählt werden, geht es indirekt auch um ein „Ja“ der Menschen zu einem vereinten Europa ohne innereuropäische Grenzen. Doch wissen die Menschen die Vorteile der ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit zu schätzen? Die EU ermöglicht es uns immerhin, in anderen Mitgliedstaaten zu leben und zu arbeiten. Neben ArbeitnehmerInnen, PensionistInnen und  Studierenden profitiert davon auch die österreichische Wirtschaft. Dieser Beitrag erschien zuerst im WU Magazin 01/19 als Beilage zur Tageszeitung Die Presse.

Die EU baut auf offene Grenzen und ermöglicht EU-BürgerInnen grundsätzlich, in andere Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort frei zu bewegen und aufzuhalten. Das bedeutet auch, dass man sich in jedem Mitgliedstaat wirtschaftlich betätigen kann. „Der EU-Vertrag garantiert die sogenannte ‚ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit‘“, erklärt Professor Franz Marhold vom WU-Institut für Österreichisches und Europäisches Arbeitsrecht und Sozialrecht.

Franz Marhold ist Professor am WU-Institut für Österreichisches und Europäisches Arbeitsrecht und Sozialrecht.

„Und nach dem Ende einer Beschäftigung dürfen EU-BürgerInnen zum Zweck der Arbeitssuche im Land bleiben.“ Aufgrund einer Unionsbürgerschaft hat man allerdings noch kein Recht, in ein anderes EU-Land einzuwandern, ohne dort zu arbeiten. „Das Einwandern in Sozialsysteme anderer Länder ist explizit ausgenommen.“ Wer also ohne Arbeit nach Österreich kommt, erhält noch keinen dauerhaften Aufenthaltstitel. „Den gibt es nur im Rahmen einer ökonomischen Tätigkeit“, sagt Marhold.

„Die EU ermöglicht, in anderen Mitgliedstaaten zu leben und zu arbeiten. Neben ArbeitnehmerInnen, PensionistInnen und Studierenden profitiert davon auch die österreichische Wirtschaft.“ Franz Marhold

Leben und arbeiten ohne Grenzen

Rund vier Prozent der EU-BürgerInnen im erwerbsfähigen Alter nutzen diese Möglichkeit – in den Zielländern sind die mobilen ArbeitnehmerInnen unverzichtbar. Auch in Österreich bauen viele Branchen auf die Arbeitskraft aus dem Ausland auf, so etwa die 24-Stunden-Betreuung. August Österle, Professor vom WU-Institut für Sozialpolitik, beschäftigt sich unter anderem mit  ökonomischen Fragen dazu: „Hier arbeiten zu 95 Prozent Frauen, die in einem zwei oder mehrwöchigen Rhythmus zwischen den mittelosteuropäischen Herkunftsländern – vor allem Rumänien und Slowakei – und Österreich als Zielland pendeln“, erklärt Österle. So waren Ende 2017 in Österreich etwa 62.000 Menschen in privaten Haushalten als PersonenbetreuerInnen tätig.

Ohne ArbeitnehmerInnen aus dem Ausland würde beispielsweise die 24-Stunden-Betreuung kaum möglich sein: „Die Arbeit, die heute von mobilen ArbeitnehmerInnen erbracht wird, ist auch weiterhin notwendig, müsste also von anderen erbracht werden – mit enormen ökonomischen Konsequenzen“, so Österle. So würde der Mehraufwand auf traditionelle Pflege- und Betreuungsdienste – mit der damit einhergehenden Frage, inwiefern die Kosten dann von den Betroffenen oder von Bund und Ländern getragen werden könnten – und die Pflege innerhalb der Familien zurückfallen.

August Österle ist außerordentlicher Professor am WU-Institut für Sozialpolitik.

Geschlossene Lücken

Am Arbeitsmarkt werden durch den Zuzug von Arbeitskräften Lücken geschlossen, die sonst durch mangelnde Qualifikation oder die gebotenen Arbeitsbedingungen und Löhne nicht durch inländische Arbeitskräfte besetzt werden können. Gerade in Niedriglohnbereichen finden sich deshalb häufig Menschen aus ökonomisch schwächeren Ländern. Neben dem Pflegewesen sind dies vor allem Sektoren wie die Reinigung und das Baunebengewerbe. Gleichzeitig fehlen in den Herkunftsländern die Arbeitskraft und damit auch die Steuereinnahmen. „In Polen wird diese Lücke – vor allem im Pflegebereich – von WeißrussInnen gefüllt. In Rumänien ist die Wirtschaft auf MoldawierInnen angewiesen, wobei diese den Vorteil der gemeinsamen Sprache haben“, sagt Marhold.

Viele Arbeitskräfte aus den Nachbarländern pendeln auch, beispielsweise UngarInnen ins Burgenland oder SlowakInnen nach Wien. Menschen, die nicht mehr im erwerbsfähigen Alter sind, können von der EU-Freizügigkeit ebenso profitieren. „In den vergangenen Jahren sind immer mehr österreichische PensionistInnen nach Bulgarien gezogen“, so Marhold. In den warmen Gefilden am Schwarzen Meer lässt es sich für Menschen mit kleiner Pension bei geringeren Lebenserhaltungskosten wesentlich günstiger leben als in Österreich. „Auch Süditalien wirbt explizit um PensionistInnen.

„Die Arbeit, die heute von mobilen ArbeitnehmerInnen erbracht wird, ist auch weiterhin notwendig“, August Österle

Hier muss man in den ersten fünf Jahren nur sieben Prozent Steuern zahlen, wenn man in eine Stadt mit weniger als 20.000 EinwohnerInnen zieht.“ Etwa in den Provinzen Kalabrien oder Apulien soll die Bevölkerung so wieder diversifizierter werden.

Studieren und arbeiten im EU-Ausland

Die Möglichkeit, ins Ausland zu gehen, nutzen auch viele WU-Studierende, die sich auf ein global ausgerichtetes Wirtschaftsleben vorbereiten. Die WU legt großen Wert darauf, dass möglichst viele ihrer Studierenden Erfahrungen im Ausland sammeln. Allein im  Studienjahr 2017/18 machten sich 1002 WU-Studierende auf den Weg in 41 Länder, um dort zu studieren und zu arbeiten. Auslandspraktika sind eine gute Gelegenheit, um internationale Arbeitserfahrung zu sammeln.

Melina Lehofer, mittlerweile Absolventin des WU-Bachelorstudiums Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, nutzte sie für ein Volontariat beim Außenwirtschaftscenter der Wirtschaftskammer Österreich in London. „Ins Ausland zu gehen war für mich persönlich und beruflich ein wichtiger Schritt und die WU hat mich darauf sehr gut vorbereitet“, sagt sie. In London habe sie ihre Sprachkenntnisse vertieft und Berufspraxis gesammelt. „Eine wertvolle Erfahrung, die ich nicht missen möchte, und auf die ich in meinem jetzigen Beruf immer gerne zurückgreife.“

Auch das Thema Brexit war im Arbeitsleben allgegenwärtig: „Wir hatten jede Woche ein Meeting, und es gab immer wieder neue Herausforderungen, vor die uns der bevorstehende Austritt aus der EU stellte.“ Mittlerweile arbeitet Lehofer im WU ZBP Career Center, einer professionellen Schnittstelle der WU zwischen Studium und Arbeitsmarkt, die junge WirtschaftsakademikerInnen bei ihrem Berufseinstieg und ihrer Karriereplanung unterstützt.