Viel Potenzial für urbanes Leben

Ballungsräume haben für Menschen schon seit jeher eine große Attraktivität. Auch eine Pandemie kann diesen Trend nicht stoppen. Wegen steigender Wohnungspreise, spürbaren Klimawandels, Einschränkung des Individualverkehrs und erhöhter Kriminalität sind neue Konzepte erforderlich, damit das Leben in Städten erstrebenswert bleibt. Dieser Beitrag erschien zuerst im WU Magazin als Beilage zur Tageszeitung „Die Presse“.

Laut Schätzung der Vereinten Nationen werden 2057 rund zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben, davon 6,5 Milliarden in Städten. Vor allem in Asien entstehen zurzeit neue Metropolen auf dem Reißbrett, wie zum Beispiel Forest City in Malaysia: Auf der künstlichen Insel sollen in 16 Jahren 700.000 Menschen leben. Oder Songdo City in Südkorea, wo dem Wattenmeer eine Fläche von sechs Quadratkilometern abgerungen wurde, um dort eine Planstadt für rund 65.000 EinwohnerInnen des gehobenen Mittelstands zu errichten. Oder in Singapur, wo soeben der neue Stadtteil Tangah gebaut wird, dessen 42.000 Sozialwohnungen ab 2023 vermietet werden sollen.

Städte üben nach wie vor starke Anziehungskraft auf viele Menschen aus. Geschätzt wird der einfache Zugang zu Arbeit, Kultur und Bildung. Doch vor rund 50 Jahren wurde erstmals auch über Stadtflucht diskutiert und die Idee des globalen Dorfs propagiert. Das Credo war: Egal, wo man sich ansiedelt, man habe Zugang zur ganzen Welt. Aufgrund verbesserter Infrastruktur ging die Annahme von zukünftiger Dezentralisierung aus. „In den 1980er-Jahren gab es eine Krise der Metropolen. Weil die Industrie die Städte verließ, kam es auch zu einer Stadtflucht der Mittel- und Oberschicht. New York musste zum Beispiel fast Konkurs anmelden“, erklärt Andreas Novy, außerordentlicher Professor am WU Institute for Multi-Level Governance and Development. Diese Entwicklung stellte sich als wenig nachhaltig heraus. Der Trend zu Ballungsräume haben für Menschen schon seit jeher eine große Attraktivität. Auch eine Pandemie kann diesen Trend nicht stoppen. Wegen steigender Wohnungspreise, spürbaren Klimawandels, Einschränkung des Individualverkehrs und erhöhter Kriminalität sind neue Konzepte erforderlich, damit das Leben in Städten erstrebenswert bleibt.

Viel Potenzial für urbanes Leben

Ballungsräumen nahm wieder Fahrt auf und wurde in den vergangenen zehn Jahren intensiviert. So erhalten beispielsweise in Skandinavien die Metropolen Oslo und Helsinki momentan ein erstaunliches Upgrading: Hafenanlagen, die nicht mehr gebraucht werden, verwandeln sich in trendige, stadtnahe und teure Wohnviertel mit fußläufiger Erreichbarkeit von Büro, Kunst- und Freizeiteinrichtungen. Auch in Wien entstehen neue Stadtteile, um auf die Zukunft vorbereitet zu sein, denn die Prognosen zeigen, dass gegen Ende des Jahrzehnts mehr als zwei Millionen Menschen innerhalb der Stadtgrenzen  leben werden.

„Wünschenwert ist der Ausbau des öffentlichen Verkehrs entlang gut ausgebauter Verkehrsachsen.“ (Andreas Novy)

Entwicklungsgebiete wie die im Bau befindliche Seestadt Aspern, das Sonnwendviertel sowie die Gegend rund um den Nord- und Nordwestbahnhof ziehen vor allem junge Familien an. Während die Seestadt weit draußen am nordöstlichen Stadtrand errichtet wird, liegen die restlichen Viertel zentrumsnah, was zu steigendem Individualverkehr führen könnte. Das wäre konträr zu der erhofften Entwicklung, die von einer deutlichen Reduktion des Verkehrsaufkommens innerhalb des Gürtels ausgeht. Einiges spricht deshalb für mutigere Konzepte beim Carsharing, sodass Privatbesitz von Pkw entbehrlich wird. Das sieht auch Novy so: „In Städten kommt es bereits zum Trennen von Benützen und Besitzen. In Wien sind österreichweit die Mobilitätskosten mit Abstand am geringsten.“ Er ist überzeugt davon, dass die Lebensqualität in Städten steigen wird, weil es die Bevölkerung einfordert, die teuren Lebensraum innerstädtisch erworben hat. Das sei auch klimapolitisch von Vorteil.

Hinaus auf’s Land

Trotz alldem hat die Sehnsucht nach einem Leben am Land jüngst aufgrund der Covid-19-Pandemie eine unerwartete Renaissance erlebt. ArbeitnehmerInnen sind örtlich unabhängiger geworden, denn Home-Office kann von überall ausgeübt werden. Ist das nun der Beginn einer neuen Stadtflucht? Städte wie Mödling oder Baden gehören zur Functional Urban Region von Wien. Novy ist überzeugt, dass sich die Menschen in Zukunft vor allem entlang gut ausgebauter Verkehrswege ansiedeln werden: „Wünschenswert ist der Ausbau des öffentlichen Verkehrs entlang solcher Verkehrsachsen. Österreich ist in der Raumplanung schlecht aufgestellt, was eine Zersiedlung und damit einhergehende Versiegelung der Böden mit sich bringt. Das wird hervorgerufen durch Umwidmung in Bauland aufgrund von Gefälligkeiten, wodurch Gebiete unter anderem für den Bau von Einfamilienhäusern erschlossen werden.“ Die Folge der Zersiedelung ist, dass eine Zwangsmobilität entsteht. So braucht oftmals jedes Familienmitglied sein eigenes Auto, um mobil zu sein. Hier bedarf es dringend eines Umdenkens.

Auch Elmar Fürst, assoziierter Professor am WU Institut für Transportwirtschaft und Logistik beurteilt das Leben in Vororten rund um die Metropolen grundsätzlich positiv. „Menschen können auf diese Weise in einem schönen Umfeld wohnen, naturnah, mit Freiräumen und Platz zum Leben“, erläutert Fürst. „Es gibt aber etliche, denen das Leben in der Innenstadt über alles geht und die auch bereit sind, Einschränkungen in Kauf zu nehmen.“ Aufgrund steigender Preise gebe es daher kleinere, aber gut ausgestattete Wohnungen in Zentrumsnähe mit ausgeklügelten, platzsparenden Raumnutzungskonzepten. Der Handel werde den Menschen folgen, denn es brauche in der näheren Umgebung der Wohnstätten auch Nahversorger.

„Es gibt Menschen, denen das Leben in der Innenstadt über alles geht und dafür Einschränkungen in Kauf nehmen.“ (Elmar Fürst)

Fürst: „Bei den innerstädtischen Einkaufsstraßen wird es darauf ankommen, wie sich die Covid-19-Krise auf den Handel auswirkt. Wenn viele Betriebe schließen und der Leerstand wächst, könnten die Preise für Handelsflächen sinken.“ Den Trend zum zentrumsnahen Wohnen macht sich Ikea zunutze und errichtet zurzeit ein Einrichtungshaus direkt neben dem Westbahnhof für ein innerstädtisches Einkaufserlebnis. Fürst: „Möbel sind Waren, die ich gesehen und ausprobiert haben möchte, bevor ich mich entscheide, sie in meine Wohnung zu stellen.“ Die dahinterliegende Logistik ist allerdings komplett anders als das herkömmliche Mitnehmkonzept der großen Möbelhäuser am Stadtrand. Alle sperrigen Waren werden nämlich direkt an die Kundin oder den Kunden zugestellt.

Berechenbare Städte

Städte sind Innovationszentren, nirgendwo sonst werden Fortschritt und Veränderung so deutlich sichtbar. Innovation beruht zunehmend auf datenba-siertem Wissen, um Städte berechenbarer zu machen. Kenntnisse zu Bewegungsströmen, Energieverbrauch, Infrastrukturauslastung und Nutzungsverhalten ermöglichen eine wesentlich bessere Steuerung. Damit beschäftigt sich Axel Polleres, Professor am WU Institute for Data, Process and Knowledge Management. Gemeinsam mit Siemens hat er das Forschungsprojekt „Open City Data Pipeline“ umgesetzt. „Die Hypothese für dieses Projekt war, dass viele Informationen über die Nachhaltigkeit und Struktur von Städten als Open Data verfügbar sind“, erklärt Polleres. „Die Herausforderung ist, diese Daten zu integrieren und über verschiedene Städte, Länder oder gar Kontinente vergleichbar zu machen, um damit zukünftige Entwicklungen vorherzusehen.“

„Wenn viele Betriebe schließen und der Leerstand wächst, könnten die Preise für Handelsflächen sinken.“ (Elmar Fürst)

Zugrundeliegende offene Daten stammten zum Beispiel von UN Data, Eurostat oder sogar Wikipedia. Datenprovider liefern ihre Informationen allerdings nicht standardisiert und kaum vergleichbar, weil etwa dieselben Indikatoren in verschiedenen Ländern unterschiedlich erhoben werden. „Indikatoren können beispielsweise die Höhe der CO2-Emission oder die Länge des Transportnetzwerks in einer Stadt sein“, sagt Polleres. „Je mehr solcher Daten vorhanden sind, desto exakter können Modelle für Simulationen mittels künstlicher Intelligenz errechnet oder abgeschätzt werden. Eine unserer beispielhaften Fragen in diesem Projekt war etwa, wie sich die Seestadt Aspern entwickeln wird.“

„Daten können das Leben erleichtern. Wenn Leerstanddaten von Geschäftslokalen erfasst werden, kann das der lokalen Wirtschaft helfen.“ (Axel Polleres)

Sein aktuelles Projekt in Wien-Leopoldstadt baut auf diesen Forschungsergebnissen auf. „Gemeinsam mit der Gebietsbetreuung wollen wir zunächst herausfinden, an welchen Daten die Bevölkerung wirklich interessiert ist“, erläutert Polleres. Diese Ideensammlung soll mithelfen, Projekte zu vereinfachen und zu strukturieren. Polleres: „Daten können das Leben erleichtern. Wenn Leerstanddaten von Geschäftslokalen erfasst werden, kann das der lokalen Wirtschaft helfen. Der offene Baumkataster beispielsweise liefert Informationen für innovative Urban-Gardening-Projekte. Die Resultate der Erhebungen ‚interessanter Daten‘ werden in der Folge an die Städte zurückgespielt.“

Wie resilient sind Städte?

Aktuelles Datenmaterial trägt dazu bei, das Zusam-menleben in bestimmten Vierteln nicht nur zu erleichtern, sondern auch die Resilienz von ganzen Städten zu erhöhen. Fakt ist, dass manche Städte widerstandsfähiger als andere sind, um mit Herausforderungen wie ökonomischer und sozialer Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, Kriminalität oder der Klimakrise besser zurechtzukommen. Für Renate Meyer, Leiterin des WU Institute for Organization Studies, ist es für die Bewältigung dieser Aufgaben essenziell, dass auf kritische Entwicklungen sensibel reagiert wird. „Sicherheitsfragen werden zu Recht breit diskutiert“, erläutert Meyer. „Ich glaube nur, dass man aus Sorge um die Sicherheit keine Ängste schüren darf: Das führt zu gefährlichen Stimmungen, die ein Eigenleben entwickeln.“

„Es braucht eine entsprechende Stimmung unter den BewohnerInnen, dass Umweltschutz nicht nur dann wichtig ist, wenn es bequem ist.“ (Renate Meyer)

Es sei wichtig, dass man sich in einer Stadt sicher fühlt. Aber aus punktuellen Extremsituationen heraus Überwachnung generell hochzurüsten, hält Meyer für problematisch. Neben dem Bedürfnis nach Sicherheit steht auch immer häufiger umweltverträgliches Agieren im Blickpunkt der städtischen Bevölkerung. Meyer: „Es braucht ein entsprechendes Bewusstsein unter den BewohnerInnen, dass umweltverträgliche Infrastruktur nicht nur dann genutzt wird, wenn es bequem ist. Nur mit Freiwilligkeit wird es allerdings nicht gehen. In vielen Bereichen bedarf es zusätzlicher Lenkungsmaßnahmen, die umweltschädliches Verhalten auch ökonomisch unattraktiv machen.“ Nachhaltigkeit dürfe keine Lifestyle-Frage sein, die man sich leisten können muss. Meyer: „Wichtig ist, dass sich Städte ihrer Problembereiche bewusst sind, sich diesen aktiv stellen und voneinander – zum Beispiel in Städtenetzwerken – lernen, wie diese Herausforderungen bewältigt werden können.“

„Die Herausforderung ist, Daten über verschiedene Städte vergleichbar zu machen, um zukünige Entwicklungen vorherzusehen.“ (Axel Polleres)

Rechtlich verbindliche Strategien Bevölkerungswachstum und rasche Urbanisierung haben einen starken Einfluss auf den Klimawandel. Wie muss die Gesetzgebung darauf reagieren, um vereinbarte Emissionsziele zu erreichen? Generell ist es wichtig, Klimaschutz möglichst rechtlich verbind-lich festzuschreiben und mit Strategien zu verknüpfen. „Tatsächlich kann die Urbanisierung in wachsenden Megacities ökologische und soziale Probleme zuspitzen, wie beispielsweise Luftverschmutzung oder soziale Ausgrenzung“, erklärt Verena Madner, Leiterin des WU Instituts für Recht und Governance. Madner: „Die Städte nehmen hier vielfach eine Vorreiterrolle ein und können so auch die Nationalstaaten und die internationale Staatengemeinschaft antreiben.“ Die konkrete Gesetzgebung liege im europäischen Vergleich aber nur selten bei den Städten.

„Wien ist eine Ausnahme, weil es als Land mit Gesetzgebungskompetenzen auch klimapolitische Schritte setzen kann.“ (Verena Madner)

„Wien ist eine Ausnahme, weil es als Land mit Gesetzgebungskompetenzen – zum Beispiel über die Raumordnung – auch klimarechtliche Schritte setzen kann. Das kann für die Erhaltung von wichtigen Grünräumen, für die Entwicklung von Wohnraum mit Anbindung an den öffentlichen Verkehr, aber auch für ein Flächenangebot an Produktionsbetriebe genutzt werden. Gesetzgebung ist nicht alles“, meint Madner. Apropos Wohnraum: Dieser wird in Städten immer mehr zum Luxusgut. Speziell in Wien ist aufgrund des Bevölkerungswachstums die Nachfrage größer als der Bestand, auch durch Neubau kann der Bedarf nicht befriedigt werden. Die Mieten und Kaufpreise für Eigentum steigen daher rasant. Braucht es hier gesetzliche Regelungen bzw. Schranken?

„Leistbares Wohnen ist für alle wachsenden Städte ein wichtiges Thema“, beobachtet Madner. Die Situation sei nicht nur vom Bevölkerungswachstum geprägt, sondern auch von der Nachfrage nach Immobilien für Anlagezwecke oder von der Verfügbarkeit von Grund und Boden. Mit einigen Instrumenten, wie man sich dieser Herausforderung stellen könne, gebe es in Österreichs Städten langfristige Erfahrungen, beispielsweise mit der Rolle des gemeinnützigen Sektors bei der Wohnraumbereitstellung oder mit dem System der Richtwertmieten.