„Ein Vollstreik könnte bis zu 74 Millionen Euro pro Tag kosten“

In Ihrem Video zum Researcher of the month 10/17 spricht WU Forscherin Elisabeth Brameshuber über die Rechte und Möglichkeiten, die streikendes Personal hat. Wir haben die Arbeitsrechtsexpertin, die selbst noch nie gestreikt hat, gefragt, warum in Österreich so wenig gestreikt wird. 

Name: Elisabeth Brameshuber (geb. Kohlbacher)

Jahrgang: 1987

Geburtsort (aufgewachsen in): Graz

Als Kind wollte ich werden: Lehrerin

Darum bin ich Wissenschaftlerin geworden: Weil ich möglichst unbeeinflusst von Interessenpolitik, die im Fachbereich „Arbeits- und Sozialrecht“ eine große Rolle spielt, grundlegenden Fragen dieses Rechtsbereichs auf den Grund gehen wollte. Ausschlaggebend war dabei vor allem, unvoreingenommen Interessenskonflikten auf den Grund gehen zu können. Diese Möglichkeit, weitgehend fernab von wirtschaftlichem Druck forschen zu dürfen, stellt ein großes Privileg dar, das ich sehr zu schätzen weiß. Ein weiterer mir sehr wichtiger Aspekt meiner Arbeit ist die Möglichkeit, Studierende im Rahmen der Lehre zu motivieren. Dabei liegt es mir vor allem am Herzen, den juristischen Blick für gesamtgesellschaftliche Fragestellungen zu schärfen.

Das fasziniert mich an meinem Fachbereich: Zunächst vor allem die Schnittstellenfunktion des „Arbeits- und Sozialrechts“ zwischen anderen Rechtsbereichen, wie etwa dem klassischen Zivilrecht, dem öffentlichen Recht, und dem im Arbeitsrecht besonders relevanten Europarecht; des Weiteren das Bestreben, nicht nur dogmatisch einwandfreie Lösungen zu suchen, sondern auch die vielfältigen hinter den Problemen stehenden Interessen zu beachten und weitgehend miteinander in Einklang zu bringen (etwa „Garantie des Lebensunterhalts des Arbeitnehmers“ vs „Erhalt von Arbeitsplätzen und damit verbunden das Erfordernis, Unternehmen zulasten des einzelnen Arbeitnehmers, aber im Ergebnis zum Wohl der Gesamtbelegschaft, zu sanieren“)

Mein persönliches berufliches Wunschziel: kurzfristig der erfolgreiche Abschluss des Habilitationsverfahrens; mittel- und längerfristig die Möglichkeit, weiterhin forschend und lehrend an der Universität tätig sein zu können, um aktuelle aber auch grundlegende Fragen des Arbeits- und Sozialrechts erforschen zu können, wobei ich konkret jedenfalls mittelfristig bereits zumindest zwei überaus spannende Themenstellungen im Kopf habe. Bei der einen geht es um den Einfluss der Digitalisierung auf die kollektiven Arbeitsbeziehungen, bei der anderen um grundlegende Fragen der Regulierung der kollektiven Arbeitsbeziehungen.


WU Blog: Wieso liegt Ihnen das Thema so am Herzen – haben Sie selbst schon einmal für etwas gestreikt bzw. demonstriert?

Brameshuber: Als ich begonnen habe, mich mit dem Thema „Streikrecht“ zu beschäftigen, war ganz klar die Meinung vorherrschend, streikende Arbeitnehmer könnten entlassen werden, selbst wenn sie für ein an sich rechtmäßiges Ziel gestreikt haben bzw gestreikt hätten. Damals war aber einerseits bereits die Europäische Grundrechtecharta in Kraft, die ein Grundrecht auf Streik verbrieft, andererseits gab es zumindest zwei eindeutige Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, aus denen sich ebenfalls ein Grundrecht auf Streik ableiten lässt. Die Herausforderung bestand daher darin, die Auswirkungen des Europarechts auf das nationale Recht zu untersuchen. Dieses Zusammenspiel zwischen Europarecht und nationalem (Arbeits-)Recht fasziniert mich bis heute und ist zu einem nicht unerheblichen Teil dafür verantwortlich, dass mir meine Arbeit derart große Freude bereitet.

„Selbst habe ich noch nie gestreikt, jedenfalls nicht aus arbeitsrechtlicher Sicht.“

Selbst habe ich allerdings noch nie gestreikt, jedenfalls nicht aus arbeitsrechtlicher Sicht. Demonstriert in dem Sinne, dass ich für eine bestimmte Forderung gemeinsam mit anderen auf die Straße gegangen bin, habe ich bislang zweimal. Im Gymnasium habe ich mit MitschülerInnen in ganz Österreich gegen die Streichung des Budgets für Schulausflüge demonstriert; als begeisterter Skifahrerin lag mir vor allem der Skikurs in der fünften Klasse am Herzen. Das zweite Mal habe ich während meiner Studienzeit in Graz gemeinsam mit vielen anderen Studierenden gegen Kürzungen im Uni-Budget protestiert.

WU Blog: Was ist der Unterschied zwischen Streikrecht und Streikfreiheit?

Brameshuber: In Österreich ging die herrschende Lehre im Arbeitsrecht lange Zeit davon aus, dass bloße „Streikfreiheit“ herrsche, dass also ArbeitnehmerInnen zwar als Ausprägung der allgemeinen Handlungsfreiheit streiken dürfen, ihnen aber aus arbeitsrechtlicher Sicht auch die negative Konsequenz der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Entlassung drohen kann. Ein weiterer Aspekt der Streikfreiheit ist jene Annahme, dass die Arbeitsvertragsparteien bzw die Kollektivvertragsparteien selbst die möglichen Konsequenzen eines Streiks regeln sollen, nicht aber der Staat. Im Unterschied dazu bedeutet ein Grundrecht auf Streik (Streikrecht), dass ArbeitnehmerInnen nicht nur das Recht haben, um bestimmte Arbeitsbedingungen zulässigerweise zu streiken, sondern dass wegen eines solchen Streiks das Arbeitsverhältnis auch nicht beendet werden darf. Streikrecht im Unterschied zur Streikfreiheit bedeutet daher vor allem die Anerkennung als schutzwürdiges Rechtsgut durch die Rechtsordnung.

WU Blog: Warum wird in Österreich so wenig gestreikt?

Brameshuber: Einer der Gründe ist das System der kollektiven Arbeitsbeziehungen. Aufgrund der hohen Kollektivvertragsdichte (zwischen 97 und 100 % aller Arbeitsverhältnisse werden durch zumeist branchenbezogene Kollektivverträge geregelt) und den relativ gut funktionierenden kollektiven Arbeitsbeziehungen (Stichwort Sozialpartnerschaft) besteht in aller Regel kein Bedarf, die Interessenpositionen abseits des Verhandlungstisches durchzusetzen und letztlich Arbeitsbedingungen zu „erkämpfen“.

WU Blog: Was unterscheidet die Streikkultur in Österreich von jener in Nachbarländern – etwa in Italien? Liegt es an der Mentalität?

Brameshuber: Letztere Frage kann Ihnen wohl eine SozialwissenschafterIn eher beantworten. Aus juristischer Sicht ist klar, dass die soeben erwähnte Sozialpartnerschaft und das System der kollektiven Arbeitsbeziehungen so, wie wir es in Österreich vorfinden, wesentliche Gründe für die Streikkultur sind und ausschlaggebend dafür sind, dass in Österreich selten bis gar nicht gestreikt wird.

WU Blog: Was kostet ein Streiktag dem Arbeitgeber?

Brameshuber: Pauschal kann diese Frage nicht beantwortet werden. Klar ist jedenfalls, dass ArbeitnehmerInnen keinen Anspruch auf das Entgelt für den Zeitraum haben, in dem sie nicht arbeiten, sondern streiken. Demgegenüber stehen jedoch durch den Streik verursachte Produktionsstillstände etc. Beim Metallerstreik 2011 wurden Kosten von zwei Millionen Euro für die gesamte Metallindustrie pro Streiktag kolportiert; gestreikt wurde jedoch nicht in allen Betrieben und nur kurzzeitig. Ein „Vollstreik“, bei dem wohl nichts anderes gemeint sein kann als die Arbeitsniederlegung durch alle Arbeitnehmer in der gesamten Branche, hätte laut IHS 74 Millionen Euro/Tag gekostet.

WU Blog: Welche Konsequenzen können dem Arbeitnehmer im Falle eines Streiks drohen?

Brameshuber: Wie bereits erwähnt, verliert der Arbeitnehmer jedenfalls den Anspruch auf das Entgelt für die Dauer der Arbeitsniederlegung, unabhängig davon, ob es sich um einen „rechtmäßigen“ oder „rechtswidrigen“ Streik handelt. Liegt ein kollektivrechtlich rechtswidriger Streik vor, könnte dem Arbeitnehmer, zumindest nach der herrschenden Ansicht in Österreich, die Entlassung drohen. Das wäre bspw. dann der Fall, wenn um politische Forderungen gekämpft wird, die der einzelne Arbeitgeber nicht erfüllen kann. Schadenersatzpflichten des einzelnen Arbeitnehmers sind weitgehend ausgeschlossen.

WU Blog: Welche Rolle spielen die Gewerkschaften im österreichischen Streikrecht – und welche Rolle nehmen die Kammern ein?

Brameshuber: Der ÖGB als Dachorganisation und die sieben darunter organisierten Gewerkschaften spielen insofern eine große Rolle, als auf ArbeitnehmerInnenseite ausschließlich der ÖGB bzw eine der sieben Gewerkschaften als freiwillige Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen Kollektivverträge abschließt. Die Arbeiterkammer als gesetzliche Interessenvertretung könnte in der Theorie ebenfalls Kollektivverträge abschließen, macht von diesem Recht aber faktisch keinen Gebrauch. Auf ArbeitgeberInnenseite schließt in aller Regel die Wirtschaftskammer bzw die jeweilige Fachorganisation bzw Fachgruppe als gesetzliche Interessenvertretung der ArbeitgeberInnen Kollektivverträge ab. Die Rolle der Wirtschaftskammer bzw des ÖGB ist daher groß – in den seltenen Fällen, in denen in Österreich gestreikt wird, geht es in aller Regel darum, Forderungen durchzusetzen, die am „Kollektivvertragsverhandlungstisch“ bislang nicht erfüllt wurden bzw bezüglich derer es am Verhandlungstisch zu keiner Einigung kam. Mit anderen Worten: Einigen sich die Wirtschaftskammer als ArbeitgeberInnenvertretung und der ÖGB als ArbeitnehmerInnenvertretung am Verhandlungstisch, findet in aller Regel auch kein Streik statt.

#ROM #Researcherofthemonth #Forschung #Arbeitsrecht #