„Food Waste ist auch ein moralisches und gesellschaftliches Problem“

Laut den Vereinten Nationen könnte unsere Welt derzeit 12 Milliarden Menschen ernähren, doch etwa ein Drittel aller Lebensmittel wird nicht konsumiert. Diese nicht nachhaltige Entwicklung trägt wesentlich zum Thema Food Waste bei. Christina Holweg, assoziierte Professorin am Institut für Retailing & Data Science der WU, forscht intensiv dazu und erklärt in diesem Interview unter anderem, warum nicht nur der Handel alleine für die tägliche Verschwendung verantwortlich ist.

WU Blog: Das Thema Food Waste erfährt seit längerer Zeit große Aufmerksamkeit. Wie kamen Sie als Handelsforscherin dazu, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen?

Christina Holweg: Die zündende Idee kam auf einer Fahrt mit dem LKW eines Sozialmarktes. Eine Kollegin und ich durften als ehrenamtliche Helferinnen Waren abholen, die in einem Supermarkt nicht mehr verkauft werden konnte. Die Produkte wie Obst, Gemüse, Milchprodukte sowie Brot und Gebäck waren aber absolut in Ordnung. Weil das Brot vom Vortag war, die Joghurts kurz vor Erreichung des Mindesthaltbarkeitsdatums standen oder das Obst nicht mehr perfekt aussah, wären sie andernfalls entsorgt worden. Es waren beträchtliche Mengen, die zudem täglich anfielen. Ich stellte mir die Frage, was der Großteil des Handels mit all den unverkäuflichen Waren macht. Die Weitergabe war im Jahr 2011 noch eher die Ausnahme. Nach Recherchen wurde klar, dass es zu diesem Thema des Lebensmittelhandels noch kaum Publikationen gab.

„Es stellt sich die Frage, ob es für nicht verkaufte Lebensmittel nicht bessere Lösungen als die Entsorgung gibt.“

WU Blog: Wie stand der Handel zum Thema Food Waste?

Christina Holweg: Food Waste stellt für den Handel unverkäufliche Ware dar und ist nicht ideal: Es zeigt auf, dass der Bedarf falsch eingeschätzt wurde und es bewirkt betriebswirtschaftlich einen Verlust. Beides sind firmeninterne Themen, da lässt man sich nicht gerne in die Karten schauen. Ein Umdenken erzwang der deutsche Dokumentarfilm „Taste the Waste“. Er lief Ende 2011 in den Kinos und zeigte auf dramatische Weise große Mengen entsorgter Lebensmittel in den Abfalltonnen der Supermärkte. Dieser Blick hinter die Kulissen hat viele wachgerüttelt. Das Thema konnte auch nicht mehr unbeachtet bleiben, weil es zum PR Risiko geworden war.

WU Blog: Was wusste man zu Beginn über Food Waste im Handel?

Christina Holweg: Wir kennen alle die Zahl, dass ein Drittel unserer produzierten Lebensmittel nicht konsumiert wird und als Food Waste gilt. Wichtig ist, dass diese Menge über alle Stufen der Versorgungskette berechnet ist, dh. vom Anbau in der Landwirtschaft bis zur*zum Endverbraucher*in im privaten Haushalt. Der Handel hat dabei den weitaus kleinsten Anteil mit weniger als 10 Prozent. Der*die Endverbraucher*in kreiert mit rund 50 Prozent den größten Anteil. Dennoch war der Handel damals Prügelknabe des Themas.

WU Blog: Kam der Lebensmittelhandel ungerechtfertigt ins Kreuzfeuer der Kritik?

Christina Holweg: Das Problem waren – absolut gesehen – die großen Mengen, die täglich in jedem der rund 5.000 Lebensmittelmärkte in Österreich zur Entsorgung anfielen. Relativ gesehen sind die Mengen gering, Warenverluste bzw. Abschreibungen liegen in den meisten Warengruppen zwischen 1-3 Prozent. Das zeigt, dass der Handel extrem effizient arbeitet. Es stellte sich daher die Frage, ob für diese großen Mengen noch verzehrbarerer Lebensmittel nicht doch bessere Lösungen als eine Entsorgung gefunden werden könnten.

Unser Forschungsprojekt zu Food Waste war dann interdisziplinär angelegt, mit Kolleg*innen aus den Bereichen Handel, Supply Chain Management und Sustainability. Und wir bekamen breite Unterstützung aus dem Handel.

„Food Waste wird von zwei Seiten verursacht: dem Handel und den Konsument*innen.“

WU Blog: Was waren die zentralen Ergebnisse Ihrer Forschung?

Christina Holweg: Zum ersten konnten wir zeigen, dass die Ursachen von zwei Seiten ausgelöst werden: Der Handel trägt zu Food Waste mit zum Beispiel Preisaktionen, sehr großen Sortimenten oder Fehlern in der Planung und Lieferung bei. Die*der Konsument*in mit überzogenen Qualitätserwartungen oder dem Anspruch voller Regale zu Tagesende. Die Optimierung des Servicelevels auf Handelsseite und die parallel steigenden Erwartungen der Konsument*innen treiben die Spirale von Food Waste an. Ein Umdenken muss daher auf beiden Seiten stattfinden!

In Interviews wurde auch deutlich, dass die Entsorgung verzehrbarer Lebensmittel ein großes persönliches Problem für die Mitarbeiter*innen im Handel darstellt. Viele hatten damit einen Konflikt. Ein Marktleiter erwähnte, dass er aus Mazedonien käme und vor zwei Jahren nicht gewusst hätte, wie er seine Familie ernähre, während er heute täglich kistenweise noch verzehrbare Lebensmittel entsorgen müsse. Food Waste ist damit auch ein moralisches und gesellschaftliches Problem.

WU Blog: Welche Lösungen zur Reduktion von Food Waste wurden erarbeitet?

Christina Holweg: Es ist sehr erfreulich, dass in den letzten 10 Jahren zahlreiche Initiativen von unterschiedlicher Seite gestartet wurden: Jedes österreichische Handelsunternehmen hat inzwischen interne Prozesse zur Weitergabe von Lebensmitteln an Tafeln oder Sozialmärkte etabliert. Die Konsument*innen sind zunehmend bereit, Produkte leicht geringerer Qualität zu reduzierten Preisen zu kaufen, die bspw. der Erfolg von Rette-mich-Boxen zeigt. Neue digitale Apps wie „Too Good To Go“ vernetzen Handel und Gastronomie mit Konsument*innen. Damit können Lebensmittel kurz vor Tagesende noch rechtzeitig und zu vergünstigten Preisen abgeholt werden.

„Wir konnten zu einem Umdenken bewegen – auch unter Studierenden gibt es ein großes Interesse an nachhaltigen Themen.“

WU Blog: Und noch ganz persönlich – wie wird sich das Thema Food Waste entwickeln?

Christina Holweg: Food Waste war vor rund 10 Jahren eine kaum beachtete Nische. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass dem Thema eine so große Bedeutung zukommen würde. Wir konnten zu einem Umdenken im Lebensmittelhandel beitragen und in der akademischen Welt Anregungen geben. Auch international, wie in den USA oder in Skandinavien, wurden tolle Initiativen gesetzt. Und besonders freut mich das große Interesse der Studierenden an nachhaltigen Themen. Forschung ist für mich bereichernd, wenn sie etwas zu einer besseren Welt für uns alle beitragen kann.

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