Die Coronakrise: Ein Perspektivenwechsel
Die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns wegen der COVID-19-Pandemie sind noch nicht abschätzbar. In vielen Branchen wird es zu gravierenden Veränderungen kommen. Das kann auch Chancen für die Gesellschaft bieten. Dieser Beitrag erschien zuerst im WU Magazin 02/20 als Beilage zur Tageszeitung Die Presse.
Das wichtigste Produkt in diesen Wochen ist 9 mal 17 Zentimeter groß, aus unterschiedlichen Materialien gefertigt und bedeckt Mund und Nase. „Wer hat sich davor schon Gedanken über Gesichtsmasken gemacht?“, fragt Nikolaus Franke, Professor am WU Institut für Entrepreneurship und Innovation. „Für EntrepreneurInnen ist das eine Gelegenheit. Man kann solche Masken elegant, modisch oder witzig anfertigen. Es gibt viele Innovationsmöglichkeiten.“ Die Coronakrise veränderte mit einem Schlag Nachfrage, Gewohnheiten und Tagesabläufe der Bevölkerung. Krisenzeiten sind dazu da, Dinge anders zu sehen. So ein Perspektivenwechsel bringt Vorteile und kann danach zu mehr Erfolg führen.
Franke: „Der Mensch ist erstaunlich kreativ, Veränderungen stacheln uns an. Ich bin überzeugt, dass unternehmerische Initiativen mithelfen werden, damit sich die Wirtschaft, die Beschäftigung und somit der Wohlstand wieder erholen.“ Tina Wakolbinger, Professorin am WU Institut für Transportwirtschaft und Logistik liefert ein Beispiel dafür: Zu Beginn der Coronakrise ist es weltweit zu einem starken Engpass an hochwertigem Mund-Nasen-Schutz für medizinisches Personal gekommen. „Es wurde versucht, durch zentral koordinierten Einkauf diese Produkte zu beschaffen“, berichtet sie. „Ein sehr schwieriges Thema war die Qualitätskontrolle, da immer wieder Masken in unzureichender Qualität geliefert wurden. In vielen Ländern wird deshalb nun versucht, eine Produktion im Inland aufzubauen.“ So auch in Österreich: Lenzing und Palmers gründeten in Wiener Neudorf kürzlich das Joint Venture „Hygiene Austria“ mit dem Ziel, monatlich 25 Millionen Schutzmasken für Österreich und Europa zu produzieren.
Keine Beispiele aus der Geschichte
Derzeit denken allerdings nur sehr wenige Unter-nehmen daran, neue Firmen zu gründen, denn viele Branchen sind nach mehreren Wochen Lockdown angeschlagen. UnternehmerInnen stellen sich die Frage: Wie geht es nun weiter? Vergangene Pandemien können jedenfalls nur bedingt als Blaupause für die Coronakrise herangezogen werden. Erforscht sind ausnahmslos Folgen historischer Vorfälle, wie sie beispielsweise nach der sogenannten Spanischen Grippe 1918/1919 aufgetreten sind.
„Die Situation ist anders als in der Finanzkrise vor rund 10 Jahren, als die Banken keine Kredite mehr vergeben haben“
Die derzeitige Situation ist im Gegensatz dazu eine präventiv eingeleitete Wirtschaftskrise, um die medizinischen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zu kontrollieren und zu begrenzen. „Beispiele aus der Geschichte dienen vor allem als Behelfsinformation wie es ohne Maßnahmen hätte kommen können“, erklärt Markus Lampe, Professor am WU Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Er ortet die Unsicherheit der Menschen als das zurzeit größte Problem. Sie beeinflusse die Erwartungshaltung von KundInnen, Unternehmen und Finanzmärkten. „Damit haben die ungewissen Zukunftserwartungen schon heute Auswirkungen.“
Es ist also eine atypische Krise, denn die Wirtschaft wurde durch politische Vorgaben künstlich angehalten. „Die Situation ist anders als in der Finanzkrise vor rund 10 Jahren, als die Banken keine Kredite mehr vergeben haben“, argumentiert Harald Oberhofer, Professor am WU Institut für internationale Wirtschaft. „Auch produktive, erfolgreiche Unternehmen sind nun in Schwierigkeiten, weil sie ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit nicht nachgehen können.“ Die Gefahr besteht, dass ohne staatliche Rettungsmaßnahmen, Geschäftsfelder zerstört werden, die bisher gut funktioniert haben. Das von der Regierung zugesagte Rettungspaket in der Höhe von 38 Mrd. Euro hat eine historische Dimension, es entspricht fast 10 Prozent der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung Österreichs.
Doch nicht nur das: Die Frage wird sein, wie schnell sich die Wirtschaft der Tophandelspartner erholen wird. Oberhofer: „Italien ist beispielsweise im Export unser drittwichtigster und im Import unser zweitwichtigster Markt.“ Deshalb wäre es in unserem ureigensten Interesse, dass die Europäische Union Solidarität mit Italien zeige. „Das Virus hat alle unvorbereitet getroffen, es ist nicht das politische Versagen eines einzigen Staates.“
„Die Krise erinnert daran, dass der Staat die unbedingte Verantwortung hat, im Interesse des Gemeinwohls zu intervenieren und zu regulieren“
Schwieriges Umfeld
Ein flächendeckender Versicherungsschutz greift in der Coronakrise jedenfalls nicht, denn nur die wenigsten Unternehmen haben sich explizit gegen Pandemien abgesichert. Um liquid zu bleiben, hilft meist nur der Weg zur Hausbank – Geldinstitute werden zurzeit verstärkt mit Kreditanfragen beschäftigt. In Österreich wurden viele aufsichtsrechtliche Regelungen gelockert, sodass es den Banken nun erleichtert wird, frisches Geld an Unternehmen oder Private zu vergeben. Das immer noch herrschende Niedrigzinsumfeld begünstigt die KreditnehmerInnen zusätzlich. „Die Kernaufgabe der Banken, die Wirtschaft mit Liquidität zu versorgen, gewinnt in der Krise wieder stark an Bedeutung“, sagt Hannelore De Silva, Wissenschaftlerin am WU Institut für Finance, Banking and Insurance. „Doch die Banken sind wegen Kreditausfällen und Zahlungsrückständen ihrer KundInnen, und der generellen Unsicherheit selbst stark betroffen.“ Berechtigterweise stellen sich Banken daher die Fragen: Welche Unternehmen können mit der bereitgestellten Liquidität die Krise gut überwinden? Welche Unternehmen haben eine schlechte Position, selbst wenn die Krise überwunden ist?
„Für Pflege, Reinigung, Kindererziehung gibt es eine Art unbezahlte Reservearmee von Frauen, die zur Verfügung steht, wenn Kindergärten und Schulen de facto zugesperrt sind und auch die Großeltern für die Kinderbetreuung ausfallen.“
Die Bundesregierung bürgt in großem Ausmaß für Kredite, trotzdem kommt es seitens der Banken nur zu zögerlichen Auszahlungen.Die Krise betrifft nicht nur die monetäre Situation, sie erfordert von allen Betroffenen ungewohnte Denk- und Verhaltensweisen. „Die Krise erinnert daran, dass der Staat die unbedingte Verantwortung hat, im Interesse des Gemeinwohls zu intervenieren und zu regulieren“, erläutert Ingolfur Blühdorn, Professor am WU Institut für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit. Arbeitsbereiche, die in unserer Gesellschaft bisher weniger Beachtung als andere gefunden haben – wie PflegerInnen, Reinigungskräfte oder VerkäuferInnen –, treten jetzt stärker als systemerhaltend hervor. Blühdorn: „Es ist damit zu rechnen, dass für diese Berufsgruppen bestimmte Verbesserungen eingeführt werden.“ Anlassbezogene Bonuszahlungen der Firmen an ihre MitarbeiterInnen werden jedenfalls steuerfrei gestellt.
Weiters glaubt Blühdorn, dass Social Distancing hergebrachte Kommunikationspraktiken in grundlegender Weise verändert: „Bereits nach wenigen Wochen hat sich gezeigt, dass auch Menschen, die neuen Kommunikationstechnologien gegenüber bisher eher skeptisch eingestellt gewesen sind, ihre Einstellungen und Praktiken verändert haben.“ Katharina Mader, Wissenschaftlerin am WU Institut für Heterodoxe Ökonomie, sieht die Lage so: „Für Pflege, Reinigung, Kindererziehung gibt es eine Art unbezahlte Reservearmee von Frauen, die zur Verfügung steht, wenn Kindergärten und Schulen de facto zugesperrt sind und auch die Großeltern für die Kinderbetreuung ausfallen.“ Mader ortet zwar ein Miteinander, wie es in Krisenzeiten immer vorkomme, sie befürchtet aber, dass die Gesellschaft danach wieder in ihren alten Trott verfallen werde.
Positiv bewertet sie den Perspektivenwechsel bei der Kommunikation in Krisenzeiten. So könnte es in Zukunft größeres Vertrauen aufseiten der ArbeitgeberInnen geben, dass im Home-Office tatsächlich gearbeitet werde. Die Bedenken, dass das Arbeiten von zu Hause aus rein technologischen Gründen nicht funktioniere, sind ihrer Meinung nach innerhalb von Tagen ausgeräumt worden. Harald Eberhard, Professor am WU Institut für Österreichisches und Europäisches öffentliches Recht, ist anderer Meinung: „Home-Office ist weder aus sozialen noch aus Gründen der Effizienz etwas, das man als dominierendes Modell für die Zukunft betrachten kann. Neue Technologien sind daher im weitesten Zusammenhang Brücken über die Krise, aber kein Weg.“ Bemerkenswert ist die Renaissance der Sozialpartnerschaft. Eberhard sieht einen großen Teil der jetzigen Maßnahmen als Ergebnis des Miteinanders und Austausches. Susanne Auer-Mayer, Professorin am WU Institut für Österreichisches und Europäisches Arbeitsrecht und Sozialrecht, stellt den öffentlichen Stellen in der juristischen Bewältigung der derzeitigen Lage ein recht gutes Zeugnis aus.
„Jede krisenbezogene Maßnahme, die in Verfassungsrechte eingreift, muss mit dem Ende der Krise auch selbst wieder außer Kraft gesetzt werden“
Aber: „Vor allem nach der ersten Akutphase hätte man sich etwas mehr Zeit nehmen sollen, unter Einbeziehung von ExpertInnen an sachgerechten und verfassungskonformen Regelungen zu arbeiten. Die gegenwärtige Ausnahmesituation führt nicht zu einem rechtsfreien Raum“, argumentiert Auer-Mayer. Positiv findet sie, dass viele behördliche Abläufe, wie Genehmigungen oder Anträge, auf digitale Strukturen umgestellt worden sind. Eberhard registriert jedoch auch, dass in der Krise manche Staaten die gegenwärtige Situation für Eigeninteressen ausnützen: „Jede krisenbezogene Maßnahme, die in Verfassungsrechte eingreift, muss mit dem Ende der Krise auch selbst wieder außer Kraft gesetzt werden. Die rote Linie betrifft vor allem das Grundrecht auf Privatleben, gerade auch im Lichte des Einsatzes neuer Technologien.“ Teilweise bestehe die Gefahr, dass die Lage ausgenutzt werde, um autoritäre Strukturen einzuführen.
Onlinehandel boomt
Zu den GewinnerInnen in der Coronakrise zählt zweifellos der Onlinehandel. Aufgrund von Beschränkungen, die den stationären Handel betroffen haben, ist das Volumen des Onlinehandels aufseiten der PrivatkundInnen gestiegen und neue KundInnengruppen sind gewonnen worden. „In der Krise gestaltet sich auch der Konsum anders und die Konsummotive ändern sich“, erklärt Bernadette Kamleitner, Professorin am WU Institut für Marketing und KonsumentInnenforschung. „Wir sehen eine Reduktion beim Wunsch nach vielen materiellen Konsumgütern und eine Nachfrageerhöhung bei digitalen und Informationsgütern.“ Die Frage, ob sich das Konsumverhalten nachhaltig ändern wird, sieht Kamleitner differenziert: „In mancher Hinsicht, zum Beispiel kontaktloses Zahlen, ja, in vieler Hinsicht nein.
Je länger das Konsumerlebnis ein deutlich anderes, distanzierteres, bleibt, desto wahrscheinlicher werden langfristige Änderungen. Um sich nachhaltig zu ändern, muss neues Verhalten überzeugende Vorteile besitzen. “Menschen haben enorme Fähigkeiten, Probleme zu lösen – am besten im Kollektiv, denn sie sind soziale Wesen und keine Einzelgänger. Nikolaus Franke zitiert den österreichischen Nationalökonomen Joseph Schumpeter, der Innovation als schöpferische Zerstörung beschreibt. Franke: „Die Organisation der Zukunft ist flexibel, agil und reaktionsschnell. Unternehmen, die so sind, werden gestärkt aus der Krise gehen.“