Persönliche Resilienz in der Klimakrise: Eine Lehrveranstaltung, die uns verändert hat
Im Sommersemester 2023 haben wir uns auf das Abenteuer eingelassen, eine neue Lehrveranstaltung an der WU ins Leben zu rufen. Sie soll Studierenden Werkzeuge an die Hand geben, mit denen sie die psychologischen Herausforderungen der Klimakrise bewältigen können. Wir ließen uns für diesen Kurs von der amerikanischen Nonprofit-Organisation „The Good Grief Network“ inspirieren. Diese Organisation hat ein zehnwöchiges Programm entwickelt, das darauf abzielt, persönliche Resilienz zu stärken, über die Notwendigkeit eines kulturellen Wandels nachzudenken, und mit den Teilnehmenden eine unterstützende Gemeinschaft aufzubauen.
Die Lehrveranstaltung ist kein traditioneller Kurs, in dem die Lehrkräfte die Studierenden unterrichten. Beide Seiten haben die Aufgaben des Austauschs von Erkenntnissen und Fragen – also was man normalerweise als Lehre bezeichnen würde – in gleichberechtigter Weise übernommen.
Jede Woche ging es um einen von 10 Schritte, die von „Akzeptiere den Ernst der Lage“ bis zu „Unternimm sinnvolle Anstrengungen“ reichten. Jede Einheit folgte einer stabilen Struktur, die aktives Engagement und die Verbindung zwischen den Teilnehmenden fördert.
Jede Einheit begann mit einer Check-in-Runde, gefolgt von kurzer Körperarbeit (z.B. Atemübungen), um alle im gegenwärtigen Moment zu verankern. Das Herzstück jeder Sitzung ist der Austausch, bei dem die Teilnehmenden gleichberechtigt und freiwillig ihre Gedanken zum Thema äußern können. Dieser Austausch findet in einer Atmosphäre des tiefen Zuhörens statt. Das bedeutet, dass die Teilnehmenden bewusst nicht kommentieren, was andere gesagt haben, und dass sie keine Ratschläge, Zustimmung oder Kritik geben. Mit anderen Worten: Der Kurs ist keine Diskussionsgruppe. Auch wenn es widersprüchlich klingen mag, ermöglichte dieser bewusste Verzicht auf Debatten eine besondere Qualität von Offenheit und kollektiver Erkenntnis, die sowohl uns als Kursleiterinnen als auch die Studierenden im Laufe des Semesters immer wieder überraschte. Jede Sitzung endete mit einem Check-out, bei dem die Überlegungen des Tages vertieft wurden. Die Studierenden übernahmen auch Moderationsaufgaben oder lasen abschließende Gedichte vor und übernahmen so Verantwortung für die Mitgestaltung.
Etwas Besonderes an diesem Kurs war auch, dass wir ihn flexibel an die Bedürfnisse und Wünsche der Studierenden anpassen konnten. So hielten wir zum Beispiel auf Wunsch der Studierenden eine Einheit im Grünen Prater ab. Diese Einheit im Freien half uns, unseren Fokus zu verlagern und die Verbindung zwischen Mensch und Umwelt stärker wahrzunehmen. In einer anderen Einheit probierten wir eine eindrucksvolle Übung aus, die wir „die Kette des Lebens“ nannten: Alle Teilnehmenden erhielten unterschiedliches Material, das die Entwicklung des Lebens auf der Erde veranschaulichte. In Stille setzten wir diese Teile zu einem großen Bild zusammen. Diese Übung regte uns dazu an, über die enorme Dauer der Erdgeschichte und die winzige Rolle des Menschen darin nachzudenken. Es war eine Demut lehrende Erinnerung an unseren Platz im Universum.
Während der Einheiten wurden die Teilnehmenden jedes Mal gebeten, geistig präsent zu sein und auf die Nutzung von Smartphones und andere Ablenkungen zu verzichten. Diese Achtsamkeit und Präsenz ermöglichten uns, aufkommende Gedanken und Gefühle genau zu beobachten. Es entwickelte sich eine interessante Gruppendynamik, in der mehrere Teilnehmende beschlossen, digitale Ablenkungen auch außerhalb der Lehrveranstaltung einzuschränken. Sie berichteten von positiven Auswirkungen auf ihre Fähigkeit, die Schönheit der Welt wahrzunehmen und Beziehungen zu anderen zu pflegen.
Wenn wir auf einzelne Lernerfahrungen zurückblicken, die uns besonders beeindruckt haben, wird deutlich, dass dieser Kurs nicht nur ein akademisches Unterfangen war. Es war eine emotionale und intellektuelle Reise, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Der Schutz der Privatsphäre aller Teilnehmenden ist ein wichtiger Teil der Kursphilosophie, daher möchten wir nicht einzelne Redebeiträge oder Reflexionsarbeiten zitieren. Aber zusammenfassend haben viele Teilnehmende etwas in der Art des Folgenden gesagt: Ich kam an einen Punkt, an dem ich mir meine inneren Widersprüche eingestehen musste. Das war eine Herausforderung für mich, aber ich fühlte mich auch gehört und verstanden. Der Kurs ermutigte mich zur Selbstreflexion und gab mir eine tiefere Ruhe, die es mir ermöglichte, meine Gedanken und Gefühle besser zu verstehen. Ich erkannte, dass es normal und weit verbreitet ist, sich von den aktuellen globalen Krisen überwältigt zu fühlen. Ich habe aber auch gelernt, dass es möglich ist, diese Gefühle zu akzeptieren und mit ihnen zu arbeiten. Die persönlichen Geschichten der anderen Teilnehmer haben mir die Auswirkungen des Klimawandels deutlicher und dringlicher vor Augen geführt. Diese Erkenntnis hat mich inspiriert, mich auf meine Art für eine lebenswerte Zukunft einzusetzen.
Der Kurs half den Teilnehmenden auch, mit ihrem Wunsch nach Perfektion umzugehen. Wir sprachen über den Umgang mit Misserfolgen, ohne in destruktive Selbstkritik zu verfallen. Dieser Austausch rief uns wieder die Notwendigkeit von Demut ins Bewusstsein, war aber auch motivierend. Eine weitere wertvolle Erkenntnis war, dass Ziele zu haben nicht der einzige Weg ist, ein sinnvolles Leben zu führen. Auch das Entdecken der Schönheit alltäglicher Dinge oder das Innehalten und Nichtstun können dem Leben Sinn geben. Schließlich sprachen wir viel darüber, wie wichtig es ist, die Unwägbarkeiten des Lebens zu akzeptieren. Der Mensch kann zwar Entscheidungen treffen, aber die Zukunft bleibt ungewiss und wir müssen uns eingestehen, dass wir als Einzelne nur wenig Kontrolle darüber haben.
Interessanterweise wirkte sich auch positiv aus, dass der Kurs auf Englisch abgehalten wurde. Für uns alle war Englisch Zweitsprache. Viele von uns hatten das Gefühl, dass das Sprechen in einer anderen Sprache ermöglichte, unsere Gedanken und Gefühle entspannter auszudrücken, ohne die Perfektionsansprüche und Erwartungen unserer Erstsprachen. Vielleicht half es uns sogar, andere Gedanken zu denken.
Obwohl jede Einheit sehr intensiv war, berichteten die Teilnehmenden, dass sie immer mit einer positiveren Sicht auf die Welt hinausgingen. Uns als LV-Leiterinnen ging es genauso. Es waren nicht die im Kurs vermittelten Informationen, die den Unterschied ausmachten. Denn wir alle wissen über den Klimawandel Bescheid und kennen diverse Ratschläge für psychisches Wohlbefinden. Die Stärke des Kurses liegt in der Art und Weise, wie das Thema behandelt wird, so dass schwierige Themen auf eine beruhigende, verbindende und ermächtigende Weise erkundet werden können. Wir geben der somatischen Erfahrung (also was wir in und mit unserem Körper fühlen), Gefühlen und Emotionen viel Raum. Dieser Ansatz war eine erfrischende Abwechslung zu den üblichen faktenorientierten Auseinandersetzungen an der Universität, führte aber interessanterweise zu intellektuellen Reflexionen, die sicher nicht auf einem niedrigeren Niveau waren als in einem herkömmlichen Kurs.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese Lehrveranstaltung eine transformierende Erfahrung war. Die Studierenden erweiterten ihre emotionale Intelligenz, knüpften Verbindungen untereinander und lernten neue Wege kennen, mit Unsicherheit umzugehen. Wir stellten unsere Vorurteile in Frage und inspirierten uns gegenseitig zu sinnvollem Handeln. Vor allem aber berichteten die Studierenden, dass der Kurs sowohl persönliche Entwicklungen als auch Ideen für gesellschaftliche Veränderungen angestoßen hat, die sich nachhaltig auf ihren Umgang mit aktuellen Herausforderungen und Krisen auswirken.
Wir freuen uns daher sehr, dass diese Lehrveranstaltung nun zum zweiten Mal startet. Die allgemeine Anmeldefrist läuft vom 29.9.2023 bis zum 9.10.2023. Wir hoffen, dass wir wieder eine so vielfältige, freundliche und kluge Gruppe haben werden wie in unserem spannenden Premierenkurs. Wenn du eine Stärkung gebrauchen kannst, um schwierige Gefühle über den Zustand der Welt zu fruchtbarem Boden für Neues zu kompostieren, dann melde dich an!
von Leila Cornips und Florentine Maier