Menschen, nicht Häuser, formen die Stadt
Ballungsgebiete sind einem stetigen Wandel ausgesetzt. Dafür sorgen sowohl Zuwanderung und Immigration als auch Investor/innen, die ganze Viertel umgestalten. Aufgabe der Stadtverwaltung ist es, sinnvolle Erneuerungsprozesse zum Wohl der Bevölkerung umzusetzen. Dieser Beitrag erschien zuerst im WU Magazin als Beilage zur Tageszeitung „Die Presse“.
Eine Stadt ist wie ein lebendiger Organismus. Sie entwickelt sich ständig weiter. Was gestern eine wenig attraktive Gegend war, ist heute ein begehrtes Wohnviertel – sozial, ökonomisch, kulturell und ästhetisch aufgewertet. Das kann mitunter zur Folge haben, dass neue, finanzkräfti-gere BewohnerInnen angezogen und Alteingesessene verdrängt werden, weil sie es sich nicht mehr leisten können, weiterhin dort zu wohnen. Diese Entwicklungen lassen sich unter dem Begriff ‚Gentrifizierung‘ zusammenfassen.
„Sind es primär private Interessen, zum Beispiel, um Wohnungen teurer zu vermieten oder zu verkaufen?“ fragt Margarete Haderer, Postdoc am WU Institut für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit. „Oder geht es darum, ein Gebiet mit höherer Lebensqualität auszustatten, dabei aber auch Leistbarkeit für eine breite Bevölkerungsgruppe und bessere Zugänglichkeit sicherzustellen?“ Die öffentliche Hand habe zum Beispiel durch Mietpreisdeckelung die Möglichkeit, die soziale Vielfalt einer Nachbarschaft längerfristig zu garantieren. Aufgrund der voraussehenden Strategie der Lückenfüllung durch Gemeindebauten vor 100 Jahren etwa, gibt es heute in den Innenbezirken Wiens nach wie vor leistbaren Wohnraum. Haderer: „Die ‚Aufwertung‘ einer Gegend muss nicht zwangsläufig soziale Verdrängung bedeuten. ‚Aufwertung‘ ist nicht per se gut oder schlecht.“
Ist Gentrifizierung böse?
Das sieht auch Gunther Maier, ao. Professor am WU Forschungsinstitut für Raum- und Immobilienwirtschaft, so: „Ich habe ein Problem mit der normativen Aussage: Gentrifizierung ist böse! In Wien gab es diesen Prozess schon vor Jahren am Spittelberg und kürzlich im Brunnenmarktviertel und im Stuwerviertel.“ Historisch gesehen war der Spittelberg bis in die 1970er/80er-Jahre ein wenig attraktiver Stadtteil. International gibt es Beispiele wie die Bronx in New York City. Nach dem Abzug von Industrie und Gewerbe gab es freien Raum in ungenutzten Gebäuden. Das führte zur Umwandlung in Lofts, wodurch große Wohnflächen billig angeboten wurden.
Maier ist davon überzeugt, dass so eine Entwicklung Diversität in eine Stadt bringt und ein kultureller und wirtschaftlicher Motor ist. „Im Brunnenmarktviertel prallen beispielsweise zwei Welten aufeinander“, erklärt Maier: „Auf der einen Seite Altbauwohnungen mit Wasser und WC am Gang, auf der anderen Seite ein topsaniertes Dachgeschoß-Appartement über zwei Ebenen, mit Terrassen inklusive atemberaubenden Blick über Wien. Das wird sich eine Familie mit geringeren finanziellen Mitteln eher nicht leisten können.“
Darüber hinaus tragen auch Zugewanderte in positivem Ausmaß zur demografischen Verjüngung der Stadt mit ihrer alternden Gesellschaft bei. Die Mehrheit der Zugezogenen zahlt hier Steuern und unterstützt somit den Erhalt sozialer Sicherungssysteme. Zuwanderung führt zudem zur Internationalisierung einer Stadt durch kulturelle, sprachliche und religiöse Vielfalt. „Wenn Menschen neu wohin ziehen, dann nutzen sie sehr häufig Netzwerke innerhalb der eigenen Community“, erklärt Haderer. „Diese Netzwerke sind oft der Einstieg in soziale Mobilität auch außerhalb der eigenen Community.“ Ein Problem entsteht erst dann, wenn Leute ‚stecken bleiben‘, also vor allem soziale oder Bildungsmobilität über Generationen nicht oder kaum gegeben ist.
Ghettobildung und Multikulti
Soziale Mobilität sowie Integration sind in Österreich untrennbar mit dem Beherrschen der deutschen Sprache verbunden. „Die Tatsache, dass jemand Deutsch nicht als Muttersprache spricht, selbst wenn er oder sie die Zweit- oder Fremdsprache gut beherrscht, gilt hierzulande leider oft als Schwachpunkt. Warum eigentlich?“, möchte Haderer wissen. Obwohl es zum Beispiel im 10. und 20. Bezirk in Wien viele türkische Supermärkte, Friseurgeschäfte und Lokale gibt, sieht sie die Gefahr einer sogenannten ‚Ghettobildung‘ nicht. Auch Maier geht mit dem Begriff ‚Ghetto‘ sehr vorsichtig um: „Einfamilienhaussiedlungen im Speckgürtel Wiens sind für mich ein ausgeprägtes Ghetto, weil dort eine homogene Bevölkerungsgruppe wohnt.“
Für ihn war Wien immer eine Multikulti-Stadt. So zu tun, als wäre die Stadt nur für die Alteingesessenen da, sei der falsche Weg. Vor 40 Jahren zählte Wien knapp über 1,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, heute rund 400.000 mehr. Maier: „Die Bevölkerungszahl hat sich im Laufe der Zeit durch die Zuwanderung und Ost-Öffnung geändert.“ Haderer pflichtet ihm bei: „Dass die Stadt so wächst, hätte man sich noch in den 1980er-Jahren nicht vorstellen können. Durch globale Urbanisierungsprozesse, europäische Bildungsmobilität, etc. kam es zu einem demographischen Wandel, der nur bedingt vorherseh- und steuerbar war.“
Öffnung der Gemeindewohnungen
Über Jahrzehnte waren Gemeindewohnungen in Wien ausschließlich StadtbewohnerInnen mit österreichischem Pass vorbehalten. Vor 15 Jahren wurde diese Voraussetzung abgeschafft, was anfangs zu heftigen Diskussionen führte. „Ich glaube, die Nicht-Öffnung der Gemeindewohnungen für Leute, die jahrelang hier wohnen, hier Steuer zahlen, ihre Kinder hier großziehen, hier selbst geboren sind, auch wenn sie die österreichische Staatsbürgerschaft nicht besitzen, war irgendwann demokratiepolitisch schwer zu argumentieren“, erklärt Haderer.
Die Öffnung stellte de facto eine Verdrängung dar: von Leuten mit österreichischem Pass durch Leute ohne österreichischen Pass, die aber alle anderen Kriterien für die Wohnvergabe erfüllten. Mit Gentrifizierung hat das nichts zu tun, denn diese bezeichnet die sozial-räumliche Verdrängung von Alteingesessenen durch eine Gruppe mit höherem Einkommen. Ein Faktor, der im Wiener Gemeindebau nicht zum Tragen kommt. Nicht zuletzt durch ihre vielen Sprachen und Kulturen hat sich Wien zu einer Großstadt entwickelt, die in internationalen Rankings (Mercer-Studie, „The Economist“) während der vergangenen Jahre immer Spitzenplätze einnahm.