Unser Leben im Umbruch
Krisen haben das Potenzial, eine Neuorientierung zu bewirken. Indem Menschen dazu angehalten werden, ihr Verhalten zu hinterfragen, entstehen für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik Entwicklungschancen, die es zu nützen gilt. Dieser Artikel erschien zuerst im WU Magazin als Beilage zur Tageszeitung DiePresse.
„Wir Menschen haben die Eigenschaft und die Gabe, uns schnell auch an plötzliche Veränderungen anzupassen.“ Das sagte Bundespräsident Alexander van der Bellen in einer viel beachteten TV-Ansprache vor dem Lockdown infolge der Corona-Pandemie am 14. März dieses Jahres. Wochen der Einschränkungen sollten folgen, die von der österreichischen Bevölkerung mitgetragen wurden. Denn menschliches Verhalten ist von vielen Faktoren abhängig. So können Erfahrungen in unsicheren Zeiten dazu führen, dass bisherige Gewohnheiten in Frage gestellt werden. Das kann eine Umorientierung beschleunigen, um völlig neue Wege zu beschreiten.
Die jetzige Corona-Pandemie ist eine globale Herausforderung, die uns auf verschiedene Weise trifft: Die Gesundheit ist gefährdet, das soziale Leben und die Wirtschaft verändern sich. Dies hatte auch Auswirkungen auf die Psyche, da es – zumindest für die bestimmte Zeit des Lockdowns – eine komplette Umstellung des Alltags gab. Elfriede Penz, Professorin am WU Institut für Internationales Marketing Management, beschäftigte sich vor einigen Jahren mit den Folgen der Wirtschaftskrise 2008. Ihr Fazit: Die damalige Situation ist mit der heutigen nicht vergleichbar. „Damals wurde nach Gründen bzw. Schuldigen gesucht. Es wurde behauptet, dass sich gewisse Personen bereichert hätten, der Ruf wurde laut, dass Regierungen wieder zur Verstaatlichung tendieren sollten.“ Obwohl es in der aktuellen Krise ähnliche Verschwörungstheorien gibt, ist dies jetzt nicht Common Sense.
„In der Wirtschaftskrise 2008 wurde behauptet, dass sich gewisse Personen bereichert hätten.“ (Elfriede Penz)
Immer häufiger wird auf positive Veränderungen hingewiesen. In der Zeit des Lockdowns wurde beispielsweise nach Abwechslung bei der Ernährung gesucht. Lokal erzeugte Produkte standen plötzlich hoch im Kurs, der Ab-Hof-Verkauf bot ein neues, spannendes Einkaufserlebnis. „Das Konsumverhalten ändert sich laufend und Lebensmittel haben zunehmend regionalen Bezug“, meint Penz. Einmal ausprobiert, wird dieser Einkaufsweg möglicherweise via Webshop und Zustelldienst auch später genutzt werden. „Wir haben jetzt größere Chancen, Veränderungen in der Nachhaltigkeit herbeizuführen, weil es schon vor der COVID-19-Pandemie ein Bewusstsein dafür gab, was 2008 während der Wirtschaftskrise noch nicht ausgeprägt war“, sagt Penz. Die WU Expertin ist überzeugt, dass nun auch die Bekämpfung der Auswirkungen des Klimawandels auf einen fruchtbareren Boden fallen wird.
Schreckgespenst Social Distancing
Dass wir Menschen ausgeprägte Sozialwesen sind, zeigte sich während des Lockdowns besonders. Social Distancing wurde quer durch alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen als sehr einschränkend und belastend empfunden. Jurgen Willems, Professor am WU Institut für Public Management und Governance, hat in den letzten Monaten diesbezüglich Datenerhebungen durchgeführt, bei denen BürgerInnen befragt wurden, wie sie die Corona-Maßnahmen wahrnehmen. „Social Distancing gilt als einer der größten persönlichen Nachteile, während die Belastungen des Wirtschaftssystems als größte gesellschaftliche Herausforderung angesehen werden“, erklärt Willems.
„In der Gefahr konstruiert man sich einen Feind. Es ist immer einfach, andere für ihr Fehlverhalten anzuprangern.“ (Sabine Frerichs)
Auch ist er der Frage nachgegangen, ob Appelle an die Selbstverantwortung in der Krise überhaupt nützen oder ob sich Menschen strikte Vorgaben, eventuell sogar mit Androhung von Strafen, erwarten. Willems: „Erste Studienergebnisse zeigen, dass starke Kampagnen zur Selbstverantwortung eine gewisse Wirkung haben, aber dies sind lediglich kurzfristige Effekte. Wiederholung und Innovation sind daher wichtig.“
Andere Länder, andere Sitten.
Am Höhepunkt der ersten COVID-19-Welle gab es in Schweden wenig Regierungsintervention. In Singapur hingegen kam eine andere Strategie zur Anwendung, dort wurde regierungsseitig auf Abschreckung gesetzt. Die Strafen für die Bevölkerung wegen Verstößen gegen Corona-Regeln waren höher als in Österreich. „Man versucht generell immer Schuldige für steigende Corona-Fallzahlen zu finden“, bemerkt Sabine Frerichs, Professorin am WU Institut für Soziologie und Empirische Sozialforschung. „Da gab es Reiserückkehrerinnen und -rückkehrer, Personen mit verwandtschaftlicher Bindung zum Balkan, junge Menschen, die sich angeblich nicht so verantwortungsvoll verhalten und stark sozial aktiv sind. In der Gefahr konstruiert man sich einen Feind, es ist immer einfach, andere für ihr Fehlverhalten anzuprangern.“
„Gewohnheiten ändern sich, wenn man über längere Zeit etwas anderes macht.“ (Sabine Frerichs)
Hinter der Schuldzuweisung stecke ein Mechanismus, bei Bedrohung versichere man sich gerne der Rechtmäßigkeit in der eigenen Gruppe. Nach dem Motto: Wir machen es richtig, die anderen machen es falsch. Frerichs: „Sich einzugestehen, dass man etwas anders machen muss, ist immer eine Herausforderung, ein Lernprozess, in dem man sich selbst verändert und so auch ein Stück weit neu definiert.“ Zweifel an der Lernfähigkeit des Menschen hat Frerichs nicht: „Die derzeitige Situation kann zu einer dauerhaften Verhaltensänderung führen, indem wir uns zum Beispiel häufige Flugreisen abgewöhnen. Gewohnheiten ändern sich, wenn man über längere Zeit etwas anderes macht.“ Dass sich Menschen manchmal nicht an die Empfehlungen zur Einschränkung der COVID-19-Pandemie halten, hat laut Willems wenig mit verminderter Lernfähigkeit zu tun.
„Wenn es um prosoziale Motivation geht, lernen wir von anderen in einem sozialen Kontext.“ (Jurgen Willems)
Es hänge vielmehr mit ihrer Motivation zusammen. Willems: „Unabhängig von der spezifischen Corona-Situation hat die Forschung gezeigt, dass Menschen nur dann bereit sind zu helfen, wenn sie denken, dass auch andere ihnen helfen.“ Das sei ein sozialer Lernprozess. „Wir Menschen sind sehr lernfähig; wenn es um prosoziale Motivation geht, dann lernen wir hauptsächlich von anderen in einem sozialen Kontext“, meint Willems.
Resilienz der Wirtschaft in der Krise
Die Einschränkung von sozialen Kontakten auf der zwischenmenschlichen Ebene ist in Zeiten einer Pandemie zwar nicht erwünscht, aus gesundheitlichen Gründen aber unerlässlich. Dies hat indirekt auch Auswirkungen auf Aktienkurse von multinationalen Unternehmen. Josef Zechner, Professor am WU Institut für Finance, Banking and Insurance, hat untersucht, wie gut unterschiedliche Wirtschaftssektoren mit Social Distancing umgehen können. Es wurde der Frage nachgegangen, ob physische Nähe benötigt werde oder ob Home-Office ausreiche. Er analysierte, wie sich der Finanzmarkt in verschiedenen Bereichen vor der Krise und während der Krise dargestellt habe.
„Die Finanzmärkte erkannten, dass sich Infektionskrankheiten wie SARS oder Ebola rasch ausbreiten können .“ (Josef Zechner)
Das Ergebnis war eindeutig: Aktienkurse haben sich höchst unterschiedlich entwickelt, Industrien, die sich resilient zu Social Distancing gezeigt haben, haben weit weniger verloren; andere Industrien, wie zum Beispiel die gesamte Reiseindustrie, wurden vom Finanzmarkt abgestraft. Eine Betrachtung der Fünf-Jahres-Periode vor der Pandemie zeigte, dass sich schon im Vorfeld Kurse von jenen Unternehmen, die resilienter gegen Social Distancing sind, wesentlich besser entwickelt haben als jene, die nicht so resilient sind. Zechner erklärt: „Eine positive Entwicklung hatten zum Beispiel die Sektoren Computer und Elektronik, Publishing, und Pharma. Eine negative die Bereiche Schifffahrt, Bergbau und die Bergbauzulieferindustrie.“ Ist das reiner Zufall? Zechner vermutet, dass smarte InvestorInnen schon eine Vorahnung gehabt hätten: „Barack Obama und Bill Gates haben vor dem Risiko einer weltweiten Pandemie gewarnt. Die Finanzmärkte erkannten, dass sich Infektionskrankheiten wie SARS oder Ebola rasch ausbreiten können.“
„Starke Kampagnen zur Selbstverantwortung haben eine gewisse Wirkung. Aber dies sind lediglich kurzfristige Effekte.“ (Jurgen Willems)
Die COVID-19-Pandemie hat nicht nur Einfluss auf Aktienkurse ganzer Industriezweige, sondern auch auf den Kampf ums wirtschaftliche Überleben einzelner Unternehmen. Regierungen versuchen seit Beginn der Krise Betriebe mit unterschiedlichen Maßnahmen zu unterstützen. In Österreich bekamen Firmen neben Fixkostenzuschüssen, Stundungen von Kreditraten etc. auch einen Aufschub, um zu melden, wenn sie sich in einer finanziellen Schieflage befinden. Normalerweise wäre dies fahrlässige Krida. Ein Unternehmen darf nämlich keine Rechnungen mehr bezahlen, wenn die Gefahr einer Insolvenz besteht.
Dadurch könnten bestimmte GläubigerInnen bevorzugt werden. Würde dies nun strikt ausgelegt werden, könnte es den Handlungsspielraum eines Unternehmens sehr einengen. „In dieser extremen Krisensituation kann es Sinn machen, wenn die Informationspflicht gelockert wird“, erklärt Zechner. „Es wird sich aber nicht positiv auswirken auf die Möglichkeit, neues Kapital zu lukrieren, denn KapitalgeberInnen brauchen Informationen. Wenn das Unternehmen nicht alle Informationspflichten hat, dann wird der Zugang zu frischem Kapital erschwert.“
Algorithmen sind allgegenwärtig
Am Höhepunkt der ersten Welle der COVID-19-Pandemie im April entwickelten zahlreiche Länder algorithmische Entscheidungssysteme wie Contact Tracing, Corona-Warn-Apps und Gesichtserkennungssoftware. Sie sollen nun mithelfen, weitere Lockdowns zu vermeiden. Die Technologie ist erprobt, Algorithmen sind in vielen Bereichen des Lebens seit rund 20 Jahren nicht mehr wegzudenken. Verena Dorner, Professorin am Department für Informationsverarbeitung und Prozessmanagement der WU, untersucht beispielsweise die Entscheidungsunterstützung mit Algorithmen und interaktiven Systemen, um auf Verhaltensänderungen von KonsumentInnen reagieren zu können.
Dabei muss ein Unternehmen das Verhalten zunächst messen, diese Daten analysieren und daraus Handlungsempfehlungen ableiten. Dorner beschreibt die grundsätzliche Frage, wie frei KonsumentInnen in ihrem Konsumverhalten überhaupt noch sind, mit einem Beispiel: „Die soziale Norm, insbesondere in den USA, dass ein Verlobungsring ein Diamantenring sein soll, hat sich tatsächlich aus einer Marketingaktion von De Beers aus den 1930er-Jahren entwickelt. KonsumentInnen passen ihre Entscheidungen und ihr Verhalten also an die Informationen an, die ihnen zur Verfügung gestellt werden.“ Für Dorner ist entscheidend, wie einfach diese zu bekommen und zu verarbeiten sind.
„Die Lockerung der Informationspflicht wirkt sich nicht positiv auf die Möglichkeit aus, neues Kapital zu lukrieren.“ (Josef Zechner)
Können andererseits KonsumentInnen mit ihren Kaufentscheidungen die Wirtschaft weiterentwickeln? Dorner unterscheidet zwischen dem einzelnen Individuum und der Masse: „In der Masse beeinflussen KonsumentInnen die Wirtschaft sehr wohl, das einzelne Individuum eher nicht, denn es hat nicht die nötige Marktmacht. Wenn jedoch eine größere Gruppe KonsumentInnen ihr Verhalten ändert, zum Beispiel, weil sie weniger Fleisch essen oder weniger Plastik verbrauchen wollen, dann reagiert die Wirtschaft mit einer Änderung ihres Angebots.“
Von sich aus übernehmen Unternehmen nur wenig Verantwortung bezüglich der Beeinflussung des KäuferInnen-Verhaltens. Firmen lassen sich in diesem Bereich nur schwer in die Karten schauen. Dorner ortet hier einen Nachholbedarf: „Die Verantwortung in der Entwicklung der Algorithmen wird in der Ausbildung von MitarbeiterInnen zu selten thematisiert.“ Daher gebe es auch wenig Bewusstsein dafür. Dorner: „Wird ein Algorithmus mit dem Ziel der Umsatzerhöhung entwickelt, wird anschließend evaluiert, ob dieses Ziel erreicht wurde.“ Was der Algorithmus aber langfristig aus den Menschen macht, das wird nicht überprüft.