Warum wechseln Unternehmen ihren „Sitz am Papier“?

Ursprünglich wollte Martin Winner Archäologe werden – entschied sich dann aber doch für die Handels- und Rechtswissenschaft. Mittlerweile ist Winner Professor am WU Institut für Unternehmensrecht und beschäftigt sich als Researcher of the month 07/19 unter Anderem mit der Frage, wie gesellschaftsrechtliche Regeln gestaltet sein müssen, damit diejenigen angemessen geschützt werden, die von einem Wechsel des Unternehmenssitzes ins Ausland betroffen sind.

Name: Martin Winner

Jahrgang: 1970

Geburtsort (aufgewachsen in): Mödling, aufgewachsen in Wien und in Mauerbach

Als Kind wollte ich werden: Archäologe

Darum bin ich Wissenschaftler geworden: wegen des Privilegs, mich mit spannenden Fragen selbstbestimmt und ohne besonderes wirtschaftliches Interesse am Ergebnis auseinandersetzen zu dürfen

Das fasziniert mich an meinem Fachbereich: das bunte Leben, mit dem sich die spröden Buchstaben des Gesetzes in der Realität füllen: Interessenkonflikte, hehre Absichten, Gier usw.

Mein persönliches berufliches Wunschziel: Studierenden zu helfen, das zu verstehen, und (nicht nur damit) einen kleinen Fußabdruck zu setzen


WU Blog: In Ihrem Forschungsvideo erklären Sie, wie man Gesellschafter beim Wechsel eines Unternehmenssitzes schützen kann, wobei es hier um den Satzungssitz, also den „Sitz am Papier“ geht. Warum wechseln Unternehmen ihren „Sitz am Papier“?

Martin Winner: Der Wechsel kann viele Gründe haben: steuerliche Vorteile oder ein (zumindest für manche Gesellschafter) günstigeres Gesellschaftsrecht, vielleicht auch angemessenere Bestimmungen über die möglichen Gewinnausschüttungen.

WU Blog: Warum können Unternehmen ihren Satzungssitz überhaupt wo anders haben? Macht es nicht prinzipiell, auch aus ArbeitnehmerInnen-Sicht, Sinn, den Satzungssitz auch dort zu haben, wo die MitarbeiterInnen eines Unternehmens sitzen?

Martin Winner: Der Satzungssitz ist ein Sitz am Papier, der mit dem tatsächlichen Sitz des Unternehmens nichts zu tun hat; geändert wird nur das auf die Gesellschaft anwendbare Gesellschaftsrecht. Grundsätzlich ändert sich für die ArbeitnehmerInnen dadurch einmal nichts, denn wenn ihr Arbeitsort in Österreich liegt, ist weiterhin österreichisches Arbeitsrecht auf sie anwendbar.

Allerdings ändert sich dann doch etwas, soweit sie kollektive Rechte im Gesellschaftsrecht haben: In Österreich wird ein Drittel der Mitglieder des Aufsichtsrats vom Betriebsrat entsandt. Das ist aber nicht in allen Ländern so. Deswegen gibt es Vorschriften in der neuen Richtlinie, mit denen dafür gesorgt wird, dass diese unternehmerische Mitbestimmung der ArbeitnehmerInnen im Aufsichtsrat bei einer Verlegung des Satzungssitzes nicht verloren geht.

WU Blog: Denken Sie, dass es sinnvoll wäre, nationale Gesellschaftsrechte einander anzupassen? Und wäre das überhaupt machbar?

Martin Winner: Grundsätzlich ist das schon sinnvoll und deswegen macht es die Europäische Union auch schon seit mehr als 50 Jahren. Allerdings ist das gerade wegen der unterschiedlichen gesellschaftsrechtlichen Systeme ein schweres Unterfangen. Ein großer Wurf ist, das hat sich in der Praxis herausgestellt, nicht möglich. Vielmehr muss man kleine Schritte setzen. Deswegen muss man auch priorisieren. Und gerade die neue Richtlinie zur grenzüberschreitenden Sitzverlegung und vergleichbaren Maßnahmen setzt hier einen wichtigen Schritt in einem besonders dringlichen Bereich.

WU Blog: Gibt es Länder, in die Unternehmen häufig ihren Sitz verlegen?

Martin Winner: Es gibt schon gewisse Tendenzen. Einerseits geht es da um räumliche Nähe, so z.B. zwischen Österreich und Deutschland, gerade auch zwischen Bayern und Salzburg, wie eine Studie zeigt. Andererseits gibt es auch den Versuch, in Länder auszuweichen, in denen das Gesellschaftsrecht besonders liberal ist. So konnte man beobachten, dass über einige Jahre lang deutsche Gesellschaften mit knapp weniger als 300 ArbeitnehmerInnen einen Aufnahmestopp verhängt haben und dann in die Tschechische Republik geflüchtet sind.

Denn unter 300 Beschäftigten mussten sie in Deutschland keine Vertreter der ArbeitnehmerInnen in den Aufsichtsrat lassen und in Tschechien gibt es eine solche Mitbestimmung überhaupt nicht. Nach dem Sitzwechsel konnte man dann wieder neue ArbeitnehmerInnen einstellen, ohne dass die Beschäftigten im Aufsichtsrat vertreten sein mussten. Das ist natürlich aus Sicht der deutschen Mitbestimmung, die von allen Regierungsparteien und einem Großteil der Opposition als Errungenschaft gefeiert wird, nicht gut. In Österreich ist ein vergleichbarer Effekt allerdings bisher nicht aufgetreten.