Neu = Gut und Alt = Schlecht?!
WU Forscherin Sarah Spiekermann widmet sich in ihrem neuesten Buch „Digitale Ethik“ der Frage, welche Rolle Digitalisierung in der modernen Wirtschaft und Gesellschaft spielt, wie sie uns verändert und wie unsere Gesellschaft über technischen Fortschritt nachdenken sollte. Wir haben die Professorin vom WU Institut für BWL und Wirtschaftsinformatik zum Interview gebeten.
WU Blog: Ist digitaler Fortschritt zwangsläufig auch menschlich als Fortschritt zu betrachten?
Sarah Spiekermann: Menschen schreiten vor allem durch eine Arbeit an sich selbst fort und weniger dadurch, dass sie unbedingt digitale Geräte dafür benutzen. Daher ist digitaler Fortschritt ist noch lange kein menschliche Fortschritt. Ja mehr noch: Digitale Transformation bedeutet noch nicht einmal, dass die Dinge, Prozesse, Unternehmen etc. selbst besser werden. Sie werden zunächst einmal nur digital und damit anders.
Digitaler Fortschritt folgt heute der Logik Neu = Gut und Alt = Schlecht und Digital = Besser. Es gibt jedoch keine ökonomische, technische oder philosophische Argumentation, die diese Sicht auf den digitalen Fortschritt rechtfertigen könnte. Trotzdem glaubt die Wirtschaft weitestgehend an diese Argumente und läuft damit Gefahr, in technologische Infrastrukturen zu investieren, die eigentlich gar nicht nötig wären.
„Digitaler Fortschritt folgt heute der Logik Neu = Gut und Alt = Schlecht und Digital = Besser“
WU Blog: Welchen Stellenwert haben Werte im sozialen Geflecht und wie verändert die Digitalisierung das allgemeine Wertesystem?
Sarah Spiekermann: Werte haben einen ganz zentralen Stellenwert im sozialen Geflecht, weil sie dem menschlichen Leben und Gemeinschaften Bedeutung verleihen. Zusätzlich zu unseren Emotionen, die auch Tiere haben, braucht der Mensch Werte, um sich zu entfalten. Digitale Services und Geräte kommen in die Welt und sind selbst Wertträger. Dadurch können sie das Spektrum an positiven Werten einer menschlichen Gemeinschaft oder eines individuellen Lebens bereichern. Sie können es aber auch stören.
WU Blog: Bezogen auf die künstliche Intelligenz wird häufig konstatiert, dass der Mensch der KI unterlegen wäre – sowohl in puncto Intelligenz als auch Moral. Ist der Mensch nun eher gut oder böse – und welche Auswirkungen hat diese Einstellung auf unser Verhältnis zur KI?
Sarah Spiekermann: Diese Feststellung, dass Menschen Künstlichen Intelligenzen unterlegen sind, ist sehr kurz gegriffen. Maschinen – ob nun mit Machine Learning oder ohne – haben Vorteile bei der Bearbeitung ganz bestimmter Aufgaben: Sie können sehr viele Daten in sehr kurzer Zeit mit hoher Präzision verarbeiten. Sie sehen Muster, die uns entgehen. Sie können uns auf Zusammenhänge hinweisen. In all diesen Bereichen, sind KI-Systeme Menschen überlegen.
„In den meisten Lebens- und Unternehmenskontexten ist der Mensch der Maschine überlegen.“
Aber nur dann, wenn es sich um Fragestellungen bzw. Aufgaben in sog. „geschlossenen Kontexten“ handelt; wenn man weiß, wofür genau die Daten und Informationen stehen, die die KI verarbeitet und vor allem, wenn man davon ausgehen darf, dass die Datenqualität und die Datenmenge sehr hoch ist, die der KI zugrunde liegt. Wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, ist der Mensch der Maschine überlegen. Das heißt dass der Mensch in den meisten Lebens- und Unternehmenskontexten der Maschine überlegen ist und daran wird sich in absehbarer Zeit auch nichts ändern.
WU Blog: Sie sprechen davon, dass wir „Hüter des Wissens“ benötigen – warum brauchen wir die und was wäre deren Aufgabe?
Sarah Spiekermann: Wenn eine KI auf Basis von sehr großen Datenmengen einen Zusammenhang ermittelt, Muster identifiziert etc., dann muss ja irgendwer beurteilen, ob diese Zusammenhänge oder Muster nun „intelligent“ sind und neues „Wissen“ darstellen oder ob sie schlichtweg unsinnig sind. Es gibt viele Muster in der Welt, zum Beispiel Wolkenformationen oder Landschaften, die zwar sehr schön sind und auch wiederkommen, die aber als Wissenbasis nicht geeignet sind. Daher braucht es Experten, die Maschinensinn von Maschinenunsinn unterscheiden können. Wer könnte das sein? Ein Data Scientist? Wohl kaum, denn der beherrscht zwar die Statistik und die Nutzung der Datenbanken; aber woher soll ein Data Scientist wissen, dass die Krebsdiagnose einer KI sinnvoll ist oder ein unwichtiges Pattern? Woher soll ein Data Scientist ohne ein Wissen über die zugrund liegende Realität irgendwie Sinn machen aus den Daten? Daher brauchen wir Leute die beides können: Die die Realität und ihre Phänomene verstehen und die mit Maschinen arbeiten können. Das sind Hüter des Wissens. Und dafür reicht die Universtitäsausbildung leider nicht aus.
WU Blog: Aus welchem Grund sollte man Ihr Buch lesen – welche Erkenntnis kann man daraus gewinnen?
Sarah Spiekermann: Wenn man das Buch liest, dann versteht man, wie die IT Welt funktioniert, was Digitalisierung ist, welche Rolle Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft spielt, wie sie uns verändert und wie wir über technischen Fortschritt nachdenken sollten und könnten, um mit der Digitalisierung eine positive Welt zu schaffen, in der sich Menschen positiv entfalten können. Das Buch öffnet die Augen, lässt verstehen und gibt Handlungsanweisungen ebenso wie eine Vision von einer digitalen Zukunft mit Verstand.