Provenienzforschung an der WU Bibliothek – zur Herkunftsgeschichte unserer Bücher

In der Universitätsbibliothek der WU findest du über 690.000 Printbücher. Unter diesen zahlreichen Büchern sind jedoch auch einige, deren Herkunft nicht eindeutig geklärt ist. Dazu gehören insbesondere Bücher, die als Raubgut aus der Zeit des Nationalsozialismus in die Bibliothek gelangt sind. In diesem Beitrag beschreiben die Kolleg*innen aus der Provenienzforschung, wie sie diese problematischen Bestände beforschen.

Bücher an ihre rechtmäßigen Eigentümer*innen zurückgeben

Ziel unserer Forschung ist es, Bücher, die unrechtmäßig in die Bibliothek gelangt sind, an ihre rechtmäßigen Eigentümer*innen bzw. deren Rechtsnachfolger*innen zurückzugeben. Den Schwerpunkt unserer Forschung bildet die NS-Zeit (1938–1945), es wird aber auch die Zeit des autoritären austrofaschistischen Regimes (1933–1938) einbezogen.

Die WU übernimmt damit Verantwortung für die dunklen Seiten ihrer Vergangenheit und die Tatsache, dass während – und auch noch nach der NS-Zeit – Raubgut an unsere Universität gelangt ist. Ein Beispiel dafür ist die Privatbibliothek von Dr. Ernst Steiner, die vom NS-Regime eingezogen wurde. Zumindest ein Teil der Bücher kam in die Bibliothek der Hochschule für Welthandel (der Vorgängerinstitution der WU), an der Dr. Steiner bis zum „Anschluss“ Österreichs als Dozent wirkte. Mit ihrer Provenienzforschung bringt die WU ihr Bedauern zum Ausdruck, dass ihre Vorgängerinstitution von der „Arisierung“ profitierte, also von der staatlich sanktionierten, systematisch betriebenen Beraubung der jüdischen Bevölkerung.

Schon gewusst?

Provenienzforschung – abgeleitet vom lateinischen Wort „provenire“ (hervorkommen, entstehen) – beschäftigt sich mit der Erforschung der Herkunft von Kulturgütern. Dabei kann es sich um Kunstwerke, aber auch um Möbel, Musikinstrumente oder Bücher handeln.

Spätestens seit Ende der 1990er-Jahre sind damit besonders jene Kulturgüter gemeint, die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ihren damaligen Besitzer*innen auf unrechtmäßige Weise entzogen wurden oder die aus einer politisch bedingten Notsituation heraus verkauft werden mussten. Dafür wurde der Terminus „NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter“ geprägt, kurz „NS-Raubgut“.

Viele NS-Raubgut-Bücher gelangten aber auch erst nach dem Ende der NS-Herrschaft über Antiquariate, als Geschenke oder Büchertausche an die Bibliotheken. Da bis heute Bücher auf diesen Wegen in die WU Bibliothek kommen können, müssen wir letztlich jedes Buch, das vor 1945 gedruckt und nach 1933 erworben wurde, als einen möglichen Raubgutfall untersuchen.

Detektivische Arbeit & internationale Vernetzung

Wir sichten im Zuge unserer Forschungsarbeit Briefe und Rechnungen sowie die Inventarverzeichnisse der (Vorgänger-)Bibliotheken, die sich im Universitätsarchiv befinden. Viele dieser historischen Verzeichnisse sind jedoch unvollständig oder wir können besondere Vermerke nicht mehr nachvollziehen. Auch häufig vorkommende Namen – wie z.B. Mayer – erschweren es, die richtige Person zu ermitteln.

Nur selten finden wir in den Büchern Hinweise auf mögliche Vorbesitzer*innen. Solche Spuren sind etwa handschriftliche Besitzvermerke oder Widmungen, Exlibris (siehe Abbildung unten), Stempel, Signaturen oder spezielle Einbände.

Exlibris von Leopold Singer

Für die Recherche der Biographien der Vorbesitzer*innen – die aufgrund der NS-Verfolgung häufig flüchten oder emigrieren mussten – tauschen wir uns auch mit Archiven und Institutionen weltweit aus. Eine große Unterstützung bei unserer Forschungsarbeit sind Datenbanken, die Provenienzforscher*innen mit den NS-Opfern und deren Rechtsnachfolger*innen vernetzen. Dazu gehört die Kunstdatenbank des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, über die es uns gelang, den Kontakt zu den Erb*innen für die Restitution (Rückgabe) eines Buches herzustellen.

Seit Beginn unserer Forschung im Jahr 2010 konnte die WU acht Restitutionen von Büchern an deren rechtmäßige Erb*innen durchführen. Die Rückgabe der Bücher an die Rechtsnachfolger*innen erfolgt dabei oft im Rahmen einer Veranstaltung, die deutlich macht, dass es nicht nur um den materiellen Wert der Bücher geht, sondern auch um eine Bringschuld Österreichs, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen und eine zumindest symbolische „Wiedergutmachung“ für Verfehlungen aus der Vergangenheit anzustreben – wie begrenzt und unzureichend auch immer sie sein mag. Während einige der Erb*innen keinen Kontakt wünschen, entsteht mit anderen im Zuge der Forschungsarbeit oft ein intensiver Austausch, der auch nach der Restitution der Bücher bestehen bleibt.

Von Büchern über die Erdölindustrie bis zum Gemeinderat –
zwei Beispiele für bisher erfolgte Restitutionen

2015 konnte die WU beispielsweise im Rahmen einer Feier 696 Bücher an Amir Singer, den Vertreter der Erbengemeinschaft von Dr. Leopold Singer, zurückgeben. Leopold Singer war 1869 in Wien als Sohn des jüdischen Kaufmanns Wilhelm Singer zur Welt gekommen und hatte 1892 an der Universität Zürich mit einer Arbeit zum Thema „Beiträge zur Theorie der Petroleumbildung“ promoviert. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich (März 1938) war auch Dr. Singer aufgrund seiner jüdischen Abstammung gezwungen, bei der neu eingerichteten Vermögensverkehrsstelle, einer Raubbehörde des nationalsozialistischen Staates, sein gesamtes Vermögen zu deklarieren. In seiner Vermögensanmeldung hatte Leopold Singer ausdrücklich seine Bücher erwähnt. Im März 1939 konnten Leopold Singer und seine Frau Jenny nach Großbritannien emigrieren. Er starb in London am 10. Juni 1942 in seinem 73. Lebensjahr.

Da jeder einzelne Band handschriftlich signiert bzw. gestempelt ist, konnte Leopold Singer eindeutig als ursprünglicher Besitzer identifiziert werden. Thematisch liegt der Schwerpunkt der aufgefundenen Bücher auf dem Gebiet der Erdölindustrie. Darüber hinaus finden sich einige Reise- und Sprachführer sowie Sachbücher über Kunst und Philosophie und Werke der Weltliteratur.

Der Weg dieser Bücher in die Bibliothek der heutigen Wirtschaftsuniversität Wien lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Obwohl jeder einzelne Titel penibel im Inventarbuch verzeichnet wurde, konnten wir bei keinem der Einträge einen Hinweis auf die Art der Erwerbung finden. Auffällig ist jedoch die zeitliche Nähe des Beginns der Einarbeitung der Bücher in den Bestand der Hochschulbibliothek im Mai 1942 zum Ankauf von 104 Bücherkisten aus dem Dorotheum im März 1942 sowie von 87 Kisten mit Büchern aus den Beständen der Vugesta (Verwaltungsstelle für jüdisches Umzugsgut der Gestapo) im April 1942. Das renommierte Auktionshaus Dorotheum, vor allem aber die Vugesta, eine weitere nationalsozialistische Rauborganisation, spielten eine zentrale Rolle bei der Verwertung jüdischer Besitztümer in Österreich.

Über Vermittlung des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus konnten wir im Juli 2014 Kontakt mit Amir Singer aufnehmen. Seit Oktober 2017 ist ein Teil der Privatbibliothek seines Urgroßvaters als Ergebnis der Provenienzforschung der WU Wien in der Dauerausstellung des Technischen Museums Wien zu Erdöl und Erdgas zu sehen (siehe auch den Dokumentarfilm zur Restitutionsfeier sowie den Artikel in der New York Times 2019).

© Technisches Museum Wien / APA-Fotoservice / Juhasz  Präsentation Bibliothek Leopold Singer:
v.l.n.r. Univ.Prof. Dr. Stephan Pichler; Dr. Christian Klösch, TMW; Dr. Gabriele Zuna-Kratky, Generaldirektorin TMW; Familie Singer; zweite von rechts – Mag. Hanna Lessing, Gen.Sekr. Österr. Nationalfonds; ganz rechts – Nikolaus Berger, MBA, Bibliotheksdirektor WU

2021 konnten wir ein Buch an die Erbinnen von Sigmund Mayer zurückgeben. Mayer (1831–1920) war ein angesehener Wiener Textilunternehmer gewesen, der ab 1880 ein Mandat im Wiener Gemeinderat innegehabt hatte. Sein Sohn Felix sah sich später gezwungen, nach dem „Anschluss“ Österreichs in die USA zu flüchten, um sich vor der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Sicherheit zu bringen. Seine Tochter Helene wurde im Ghetto von Łódź ermordet. Bei dem restituierten Buch handelt es sich um den Titel „Die Gemeinde-Verwaltung der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien in den Jahren 1877 bis 1879. Bericht des Bürgermeisters Dr. Julius R. v. Newald, Wien 1881“. Es liegt nahe, anzunehmen, dass dieses Buch im Kontext von Sigmund Mayers Tätigkeit im Wiener Gemeinderat Eingang in seine umfangreiche Bibliothek gefunden hatte.

Da wir dieses Buch – nicht zuletzt aufgrund der Häufigkeit und der Fehleranfälligkeit bei der Schreibung des Namens – keinem Eigentümer zuordnen konnten, wurde es im Frühjahr 2018 in die oben erwähnte Kunstdatenbank des Nationalfonds aufgenommen. Im September 2019 meldete sich Dr. Karina Urbach aus Princeton (USA) und schrieb, dass ihr Urgroßvater Sigmund Mayer eine große private Bibliothek in seinem Haus in Döbling besessen und sein Sohn Felix diese Sammlung geerbt hatte. Diese wurde 1938 von den Nationalsozialisten geplündert. Am 22. Juli 2021 wurde das Buch im Jüdischen Museum Wien an Karina Urbach restituiert, die bei dieser Gelegenheit ihre Publikation „Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten“ vorstellte.

Hier kannst du alle bisher erfolgten Restitutionen im Detail nachlesen.

Kontakt

Team Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek der WU Wien:

PD Dr. Johannes KOLL
johannes.koll@wu.ac.at

Regina ZODL
regina.zodl@wu.ac.at