„Bald steht uns ein ÄrztInnenmangel bevor!“
Hohe Jugendarbeitslosigkeitsraten, unsichere Pensionen sowie die Pflege und Betreuung älterer, kranker oder behinderter MitbürgerInnen stellen das Zusammenleben der Generationen auf die Probe. Viele der Pflegejobs werden in Österreich von Menschen mit Migrationshintergrund ausgeübt – wir haben Franz Marhold (Präsident des europ. Instituts für soz. Sicherheit) und Karin Heitzmann (a. o. Univ. Prof. am WU Institut für Sozialpolitik) zum Interview gebeten. Dieser Artikel erschien zuerst im WU Magazin.
Gibt die EU der Arbeitsmigration ein ausreichendes juristisches Rüstzeug?
FRANZ MARHOLD (FM): Die Rechtsordnung schafft Tatbestände, die von der Wirklichkeit überholt wurden. Die europäischen Regeln sind auf der einen Seite großzügiger als es viele Mitgliedsstaaten wollen, andererseits ziehen die Rechte für EU-Bürger zu enge Schranken. Somit gibt es ein Auseinanderklaffen zwischen dem, was politisch in den Mitgliedsstaaten verlangt wird, und dem derzeit gültigen EU-Recht.
KARIN HEITZMANN (KH): Einerseits ist nicht klar, ob die Union für Arbeitsmigration aus Drittstaaten zuständig sein soll, auf der anderen Seite ist der staatenübergreifende Blick notwendig, um die enge Perspektive der einzelnen Staaten mit ihren speziellen Kosten-Nutzen-Rechnungen aufzubrechen.
Derzeit boomt die Arbeitsmigration im Pflegesektor. Wie wird sich dieser Trend entwickeln?
FM: Wir werden im Gesundheits- und Pflegebereich in Zukunft noch stärker auf Arbeitsmigration angewiesen sein. Allerdings wird es immer schwieriger werden, Pflege- und Gesundheitspersonal aus den unmittelbaren Nachbarländern zu akquirieren. Schon heute gehen die Arbeitslosenraten in der Slowakei und Ungarn zurück. Der Niveauunterschied des Lohns ist nicht mehr so hoch. Je niedriger er wird, desto weniger Grund wird es für Personen der osteuropäischen Staaten geben, von zuhause wegzugehen.
KH: Im Pflege- und Gesundheitsbereich ist die Arbeitsmigration vor allem eine Frauenmigration. Die Konsequenz wird sein, dass man sich Arbeitskräfte aus immer ferneren Ländern suchen muss, in denen die Lohndrift im Vergleich zu entwickelten Ländern noch größer ist. Wir beobachten bereits, dass aufstrebende osteuropäische Länder sich ebenfalls Arbeitsmigranten für die Pflege ins Land holen.
„Arbeitsmigration ist vor allem eine Frauenmigration.“
Ist aus der Nachhaltigkeitsperspektive nicht auch wichtig, was Arbeitsmigration für die Herkunftsländer bedeutet?
KH: Es gibt Studien über Frauenmigration, die zeigen, dass es in vielen osteuropäischen Ländern nicht gern gesehen wird, wenn Mütter das Land verlassen, um im Ausland zu arbeiten. Mitunter, weil die Pflege der zurückgebliebenen Familienangehörigen wieder auf Frauen zurückfällt, etwa Großmütter, FreundInnen, Bekannte, usw. Deshalb ist die Akzeptanz der Arbeitsmigrantinnen in diesen Ländern zum Teil niedrig. Ökonomisch mag es für Österreich und die Pflegerinnen eine Win-win-Situation sein, aber sozial betrachtet ist es ein Problem. Es bedarf also eines ganzheitlicheren Blicks auf das Thema.
Gibt es neben der Pflege weitere Bereiche, wo Sie Schwierigkeiten sehen, die Nachfrage nach Arbeitsmigration zu befriedigen?
FM: In der Krankenbehandlung droht uns ein dramatischer ÄrztInnenmangel. Den werden wir in ähnlicher Form befriedigen, wie es im Pflegesektor der Fall war. Wir sollten über jeden Syrer froh sein, der eine ärztliche Ausbildung in Syrien genossen hat, denn wir werden ihn brauchen.
Apropos Flüchtlingsproblematik. Inwieweit betrifft sie die Arbeitsmigration?
FM: Auf den Arbeitsmärkten ist die Frage der Arbeitsmigration von Flüchtlingen in erster Linie eine Integrationsaufgabe. Wünschenswert sind kulturelle, soziale, integrative Maßnahmen, während Arbeitsmigration in der EU eine rein ökonomische ist. Brisant ist, dass wir mit der Verordnung 883/04 eine Gleichstellung der Flüchtlinge und Asylwerber mit den EU-Bürgern in der Migration haben. Das bedeutet, sie haben Zugang zu den Sozialhilfesystemen in derselben Art und Weise, wie Bürger der Mitgliedsstaaten. Bedenklich, ob Gleichbehandlung überhaupt ein adäquates Instrument ist. Flüchtlinge benötigen eher Sachleistungen Betreuung und Integrationsmaßnahmen.
„Es kann nicht von der Arbeitsmigration per se gesprochen werden.“
Liegt die größte Herausforderung bei der Arbeitsmigration ebenfalls in der Integration?
KH: Ja, dabei muss jedoch zwischen Typen von MigrantInnen unterschieden werden. Es kann nicht von der Arbeitsmigration per se gesprochen werden. Ein Migrant aus einem westlichen EU-Land ist ökonomisch anders gestellt als einer aus einem osteuropäischen Mitgliedsland oder gar Drittstaatsangehörige. Aus sozialpolitischer Sicht ist die Eingliederung in den Arbeitsmarkt eine große Herausforderung. Vor allem bei Drittstaatsangehörigen ist die Erwerbsarbeitsquote gering und die Armutsgefahr sehr hoch. Aus der Armutsforschung wissen wir zudem, dass Armut häufig vererbt wird und sich über Generationen fortsetzt. Hier könnte die Politik und das Sozial- und Arbeitsrecht noch viel bewirken.
Veranstaltungstipp!
9. Jänner 2018, 18.00 Uhr
WU matters. WU talks. Baustelle europäischer Sozialraum
Unterschiedliche Lohn- und Sozialstandards innerhalb der EU geben Anlass zu Diskussion über die Abschottung nationaler Arbeitsmärkte, Behinderung von Entsendungen sowie Verschärfung der Gesetzgebung zu Lohn- und Sozialdumping.
Vortragender:
Franz Marhold, Vorstand des WU Departments für Unternehmensrecht, Arbeits- und Sozialrecht.
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