Syrische Süßigkeiten, afghanischer Tee und Menschen voller Geschichten
Im vergangenen Jahr sind mehr als 85.000 Schutzsuchende nach Österreich gekommen und haben Asyl beantragt. Mit ihnen kam eine Welle an Hilfsbereitschaft und Unmengen an Spenden, aber gleichzeitig wurden auch unzählige Diskussionen geführt, oftmals geleitet von Vorurteilen und Emotionen. Dass „die Flüchtlinge“ keine homogene Gruppe sind, sondern 85.000 Einzelpersonen in unterschiedlichen Lebenssituationen, die eigene Erfahrungen und Bedürfnisse mit sich bringen, wurde dabei oft nicht bedacht. Um den öffentlichen und privaten Debatten Hintergründe und statistische Daten zu liefern, haben wir, als Teil des Projektteams der Wirtschaftsuniversität Wien, mit den Menschen gesprochen, die zu uns gekommen sind und sie zu verschiedenen Lebensbereichen befragt. Natürlich nicht alle 85.000, aber immerhin knappe 530.
Entstanden ist das Projekt aufgrund des Wunsches einer Studienkollegin, ihre Masterarbeit über die vielen 2015 in Österreich ankommenden Geflüchteten zu verfassen. Daten gab es zu diesem Zeitpunkt, das war zu Beginn dieses Wintersemesters, de facto keine. Unter der Leitung von Dr. Isabella Buber-Ennser vom Vienna Institute of Demography wurde ein Projektteam zusammengestellt, ÜbersetzerInnen gefunden und SponsorInnen gesucht. Nach langen Arbeitstagen der Projekt-Beteiligten, nach Interviewtrainings und einem Training zu interkultureller Kompetenz, begann dann die eigentliche Feldphase: Ein Team aus 15 Studentinnen des Masterstudiengangs Socio-Ecological Economics and Policy (SEEP), verstärkt durch 15 Arabisch- und Farsi-ÜbersetzerInnen, machte sich in mehrköpfigen Teams auf den Weg in Flüchtlingsunterkünfte in Wien und Niederösterreich. Der Fragebogen, der pro Person in etwa
30 Minuten in Anspruch nimmt und demographische Daten sowie Informationen zu Familie, Flucht, Ausbildung, Arbeitserfahrung, Gesundheit und Wertvorstellungen abfragt, wurde über ein Tablet ausgefüllt. Natürlich gab es in den meisten Heimen anfangs Skepsis gegenüber dem Projekt: Wer seid ihr? Werden wir überwacht? Beeinflussen meine Antworten meinen Asylstatus? Bekommen wir Asyl? Der anfänglichen Skepsis zum Trotz, haben innerhalb von vier Wochen 528 Geflüchtete die rund 60 Fragen zu den verschiedenen Themen beantwortet.
Für uns Interviewerinnen sind jedoch nicht nur die gesammelten Daten interessant, sondern auch die Geschichten, die uns die Menschen erzählt haben. Mit DolmetscherInnen, Händen, Füßen und (Handy-)Fotos haben die Geflüchteten versucht, uns ihre Heimat und ihre persönlichen Schicksale – zum größten Teil aus Syrien, dem Irak und Afghanistan – näher zu bringen. Dabei wurde manchmal gesungen und gelacht, oft waren die Erzählungen emotional ergreifend und haben zum Nachdenken angeregt.
Ein Höhepunkt des Projektes war mit Sicherheit die Befragung in einem Asylheim in Horn: Die Familien, die dort zum ersten Mal wieder eine längerfristige Bleibe gefunden hatten, ausgestattet mit Gemeinschaftsküchen und wohnlichen Zimmern, haben es sich nicht nehmen lassen, uns zum Mittagessen einzuladen und uns mit Tee und Süßigkeiten zu versorgen. Es war ihnen ein großes Bedürfnis sich bei uns zu bedanken, stellvertretend für all die Hilfe, die sie in Österreich erhalten haben. Viele nutzten die Gelegenheit, um Geschichten von ihrer Zeit vor der Flucht, ihren Freunden und Familien zu erzählen. Gerade den jüngeren Menschen fällt es schwer, in den Unterkünften zum Nichtstun gezwungen zu sein, anstatt Deutsch zu lernen oder arbeiten zu können: „Viele sind extrem unglücklich, weil sie nichts zu tun haben und nur herumsitzen können“, erzählte uns Sarah, eine unser Kolleginnen. Der Großteil der interviewten Flüchtlinge betonte, am wichtigsten sei es ihnen, endlich neu beginnen zu können, um nicht mehr nur als Flüchtlinge wahrgenommen zu werden und wieder ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Viele der Studentinnen haben aus ähnlicher Motivation teilgenommen. Die meisten von uns wollten valide Daten sammeln, anstatt nur den bestehenden Gerüchten Glauben zu schenken. Für Mari war auch die anstehende Masterarbeit ein wichtiger Aspekt, um an dem Projekt teilzunehmen: „Ich interessiere mich schon lange für das Thema und habe im Sommer überlegt, meine Masterarbeit zum Thema Flucht zu schreiben. Aber Daten zu bekommen ist schwierig, weil es einfach jetzt passiert. Als ich von dem Projekt gehört habe, wollte ich deshalb unbedingt dabei sein.“
Auch wenn wir eine vorgegebene Interviewzahl hatten, blieben viele der Studentinnen für weitere Interviews bei dem Projekt dabei: „Ich wollte weitermachen, die Atmosphäre war so nett und es war schön, einmal Kontakt zu den Menschen zu haben und zu erfahren, was sie zu erzählen haben“, so Agnes.
Entstanden ist nicht nur ein wichtiger Datensatz für die wissenschaftliche Forschung und für spannende Masterarbeiten, geblieben sind auch Freundschaften, veränderte Perspektiven und Neuentdeckungen: Die syrische Küche zum Beispiel ist – wenn man einmal von den uns persönlich zu süßen Nachspeisen absieht – einfach fantastisch.
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