Ein universitäres Zuhause für die internationale Demografie
Seit 1974 gibt es am Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA) im Schloss Laxenburg ein Forschungsprogramm, das sich mit Fragen der Bevölkerungsentwicklung beschäftigt. Von 1984 bis 1994 stand es unter der Leitung von Nathan Keyfitz, der die wichtigsten Lehrbücher der mathematischen Demografie geschrieben hatte und nach seiner Emeritierung von Harvard für zehn Jahre nach Wien kam. Damals wurden am IIASA auch die Grundlagen der Methoden der multidimensionalen Demografie entwickelt, die die Bevölkerung neben Alter und Geschlecht noch nach weiteren Dimensionen gliedert. Das ist die Basis der von uns heute für alle Länder der Welt betriebenen Analysen des Humankapitals. Ich selbst hatte 1983 meinen PhD in Demografie an der University of Pennsylvania abgeschlossen und erhielt durch das IIASA die einzigartige Chance, sowohl nach Wien zurückzukehren als auch das internationale akademische Klima, an das ich mich in den USA gewöhnt hatte, nicht missen zu müssen.
Im Jahre 1975 hatte die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ein kleines Institut für Demografie gegründet, das eng mit dem Statistischen Zentralamt verbunden war und auch unter der Leitung von dessen Präsidenten Lothar Bosse stand. Es hatte anfangs nur einen, später dann zwei wissenschaftliche Mitarbeiter und erst in den 1990er-Jahren waren es bis zu zehn Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sich alle primär mit Fragen der nationalen österreichischen Entwicklung befassten. Als die österreichische Bundesregierung der ÖAW im Jahr 2000 signifikante zusätzliche Finanzmittel gab, um ein paar ausgewählte international sichtbare Leuchttürme der Forschung aufzubauen, gingen diese Mittel fast ausschließlich an die Naturwissenschaften und es wurden damals unter anderem IMBA und CeMM gegründet. In den Sozial- und Kulturwissenschaften wurde als einziges Institut die Demografie zum Ausbau auserkoren, mit dem Argument, dass das Thema sozialpolitisch überaus relevant sei, aber in der österreichischen Hochschullandschaft vollständig fehle. Im Jahr 2002 übernahm ich unter der Bedingung, dass die Zahl der Planstellen verdoppelt wird, die Arbeitssprache fortan Englisch ist und der Fokus auf europäisch vergleichender Demografie liegt, nebenberuflich die Leitung des Instituts, das in „Vienna Institute of Demography“ umbenannt wurde. Es gelang mir, einige führende europäische Demografen nach Wien zu holen, signifikante Forschungsgelder einzuwerben und in Wien ein Zentrum der europäischen Demografie zu schaffen.
In der gesamten deutschsprachigen Hochschullandschaft fehlte im Gegensatz zu fast allen anderen europäischen Ländern die Demografie nach wie vor gänzlich. Das hatte historische Ursachen in der Nazizeit (in der sich die Deutsche Gesellschaft für Demographie in „Gesellschaft für Rassenhygiene“ umbenannt hatte), aber selbst 60 Jahre nach ihrem Ende waren die Hochschulen offensichtlich weder willens noch in der Lage, diese Lücke im Spektrum der angebotenen Disziplinen zu schließen. Ich selbst hatte mich an der Uni Wien bei Gerhart Bruckmann in Sozialstatistik und Demografie habilitiert, aber universitäre Stellen in diesem Bereich gab es keine. So entwickelte sich von 2005 bis 2007 die eigenartige Situation, dass Wien einerseits zum „Epizentrum der europäischen Demografie“ geworden war (O-Ton des CEO der Deutschen Bank bei einem Demografie-Symposium im obersten Stockwerk der Bank in Frankfurt) und es andererseits keine Universität gab, an der der Nachwuchs ausgebildet werden konnte und die jungen Demografinnen und Demografen ein Doktorat oder ihre Habilitation erwerben konnten. Das Fehlen einer universitären Verbindung wurde für den Demografie-Standort Wien zunehmend zu einem Handicap.
In dieser Situation begann ich quasi an österreichischen Universitäten hausieren zu gehen: Biete hohe wissenschaftliche Reputation und internationale Sichtbarkeit im Gegenzug für universitären Lebensraum für die Demografie. Da ihr marktwirtschaftliche Mechanismen nicht fremd waren, erkannte die WU dies als Chance. 2010 wurde am Department für Sozioökonomie im Institut für Sozialpolitik eine Demografie-Abteilung mit einer Teilzeitprofessur begründet, die auch mit dem Institut für Statistik und Mathematik verbunden ist. Damit war ein wichtiger nächster Schritt zur Stärkung des Demografie-Standorts Wien gesetzt, der weiterhin boomt und bisher mit einer relativ kleinen Truppe schon sechs der hochbegehrten ERC-Grants erhalten hat. Darüber hinaus erlaubte es der Wittgenstein-Preis 2010, die drei Demografie-Gruppen im Wiener Raum – das World Population Program des International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA), das Vienna Institute of Demography (VID) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und die noch kleine WU-Gruppe – unter dem gemeinsamen Dach des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital zusammenzubringen.
Der Aufbau dieses universitären Standbeins der internationalen Demografie schreitet beständig voran. Im englischsprachigen Masterprogramm „Socio-Ecological Economics and Policy“ (SEEP) ist die Demografie eines von vier Spezialisierungsfächern, bereits mehrere Dissertationen wurden in den letzten Jahren erfolgreich abgeschlossen und es wird auch schon die erste Habilitation in Demografie eingereicht, mit der Erwartung, dass in den kommenden Jahren noch etliche hinzukommen werden. An der Finanzierung eines eigenen Doktoratskollegs arbeiten wir noch. Was die Forschung betrifft, so gibt es im Kontext des WU-Forschungsinstituts für Human Capital and Development, das von Jesus Crespo Cuaresma gemeinsam mit mir geleitet wird, auch eine enge Verbindung zum Department für Volkswirtschaft und weiterhin auch eine Verbindung zum Institut für Statistik und Mathematik.
Einen weiteren großen Schritt in Hinblick auf die universitäre Anbindung der außeruniversitären demografischen Forschung erwarte ich vom Umzug des Akademie-Instituts in das neue Gebäude D5 auf dem WU-Campus im Sommer 2015. Selbst in Zeiten der immer intensiver werdenden elektronischen und virtuellen Interaktion ist die Location nach wie vor ein ganz entscheidender Faktor, besonders wenn es um informelle menschliche und wissenschaftliche Kontakte geht, die die Voraussetzung für viele neue Erkenntnisse sind. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, der ganzen Verwaltung der WU und insbesondere Rektor Badelt ausdrücklich für die tatkräftige Unterstützung dieses Vorhabens und das großzügige Entgegenkommen zu danken. Damit hat die internationale Demografie in Wien jetzt tatsächlich auch im physischen Sinn ein universitäres Zuhause bekommen.
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